Am Gleis 1 wurde zwei Stunden lang geträumt
Johann Wagner präsentierte eine Quasi-S-Bahn von Görlitz unter anderem über Rothenburg nach Lodenau, nach Penzig (PL) und Friedland (CZ). Rechts Staatssekretär Conrad Clemens Foto: M. Wehnert
Während die Debatten um Visionen im Schienenfernverkehr und Elektrifizierungen episch ermüden, ist im ÖPNV der Region durchaus Musik drin. Das bewies eine Debatte mit Experten im Bahnhof.
Görlitz/Region. Der öffentliche Verkehr produziert Schlagzeilen am Fließband. Meist meldet sich eine politische Stimme zu Wort, die nun endlich die Elektrifizierung der Eisenbahnstrecken nach Cottbus und/oder Dresden fordert und dann so schnell verpufft, wie sie gekommen ist. Zwischen den ganzen realpolitischen Unwägbarkeiten ist es so vielleicht kein Zufall, das die jungen Wilden und die Altvorderen einmal gemeinsam zur Verkehrsdebatte einluden. Im Veranstaltungssaal „Gleis 1“ im Görlitzer Bahnhof begrüßte Johann Wagner als Vorsitzender der hiesigen Jungen Union mit Stephan Enger, dem Kreisvorsitzenden der Seniorenunion, ein diskussionsfreudiges Publikum unter dem Leitmotiv „Tradition und Gegenwart“.
Ex-CDU-Landtagsabgeordneten Volker Bandmann, seit kurzem CDU-Kreisehrenvorsitzender, war es ein Anliegen darauf hinzuweisen, dass es da ja auch das Jubiläum „100 Jahre Elektrifizierung des Görlitzer Bahnhofes“ gebe, auch wenn diese glorreiche Zeit wegen der Demontage durch die Sowjets nach dem Krieg eine eher kurze Episode blieb. Und irgendwie merkte man, dass die zumeist fachkundigen Besucher der Debatten um Elektrifizierungen fast überdrüssig sind. Der Fokus richtete sich eher auf ein zweites Jubiläum: 40 Jahre Tatra-Straßenbahn in Görlitz und Zukunftsperspektiven für den ÖPNV-Knotenpunkt Görlitz. Die detaillierte Präsentation vom Görlitzer GVB-Geschäftsführer René Wendler über Investitionen in die Straßenbahn bot dafür freilich auch mehr Diskussionsstoff. 2024 beginnt die Fertigung des ersten von acht neuen Fahrzeugen, das 2025 ausgeliefert wird – mit Option auf sechs weitere Triebwagen. Die zweite Grafik zeigte einen neuen Betriebshof, über dessen voraussichtliche Lage René Wendler jedoch noch Stillschweigen bewahrte. Die Form des Areals könnte vielleicht auf einen umfassend erweiterten Raum der Wendeschleife Neiße-Park hindeuten. Der alte Betriebshof werde damit jedoch nicht verschwinden, schon weil man auch historische Fahrzeuge bewahren wolle.
Das schien auch dem Kreisbeigeordneten Thomas Rublack zu gefallen, der bekannte: „Ich bin einst auf dem Heimweg von der Schule dort immer fasziniert vorbeigekommen.“ Er kam – wie sollte es anders sein – an diesem Montag gerade von einer Besprechung mit dem Kreis Bautzen in Sachen Elektrifizierung.
In der späteren Debatte plauderte der designierte Geschäftsführer des Verkehrsverbundes ZVON ab 1. Januar, Christoph Mehnert, dann geradezu undiplomatisch, „dass man wohl die Kirche im Dorf“ lassen müsse. Wenn man auf der Fernverbindung Berlin-Görlitz-Breslau 160 Stundenkilometer erreiche sei das doch ok und das Kleben am ICE-Status vielleicht nicht das wichtigste. Der technische Fortschritt erfordere vielleicht auch keine Elektrifizierung!
Mal schauen, wie lange es im Zeichen des drohenden Staatsbankrotts dauert, bis hierzu der Region auch seitens führender Politiker reiner Wein eingeschenkt wird.
Auf die Frage vom Niederschlesischen Kurier, ob denn für den Nahverkehr Niesky-Görlitz noch ein Halt in Horka-Mitte möglich sei – dort scheitert das Anliegen bislang nur an der Norm für die Bahnsteighöhe – darf man den Horkaern wohl kaum mehr Hoffnung machen. Mehnert zog sich darauf zurück, dass die Nutzung wohl zu geringfügig wäre, die Sache sei letztendlich „doof“.
Während überregional wohl mancher Zahn zu ziehen ist, sieht es da mit der Strukturförderung in Sachen Straßenbahn ganz anders aus. Die Redaktion sandte während des Vortrages von René Wendler Fotos der projizierten Grafiken einem Geschäftsführer eines Verkehrsconsultingbetriebes in Nordrhein-Westfalen zu. Kommentar von diesem: „Görlitz scheint ja viel Geld zu haben – so etwas kann sich hier im Westen keine Stadt unter 300.000 Einwohnern leisten.“ Diesem Eindruck leistete vielleicht das runderneuerte Energieversorgungssystem oder perspektivisch die Beschaffung autonom verkehrender Fahreinheiten für den Quartierverkehr Vorschub – ein Hauch von „15-Minuten-Stadt“ also. Für ein führerloses Fahren der Straßenbahnen erfolgt modellhaft auch ein Ausbau eines Abschnittes am Wiesengrund.
Die Frage von CDU-Pressesprecher Clemens Kuche, ob man mit den selbstständig fahrenden Zubringern zur Straßenbahn auch die Landeskrone hinaufkomme, blieb mit verklausuliert Version von „eher nicht“ ein schöner Traum. Doch wegen des Träumens waren letztlich alle da: So auch CDU-Staatssekretär und Bevollmächtigter des Freistaates Sachsen beim Bund Conrad Clemens. Der Herrnhuter ist sicher ein gewichtiger Garant dafür, dass bei der Reaktivierung stillgelegter Bahnstrecken auch Löbau-Herrnhut-Oberoderwitz mit guten Aussichten im Boot ist. Weil es mit der Reaktivierung einer Strecke bei Döbeln nun klappe, zeige er sich auch in Sachen Herrnhut optimistisch.
Da die Straßenbahnumstiege am Bahnhof Südausgang und Deminiplatz umfassend umgestaltet werden, stellte sich für die Redaktion noch die Frage, ob mit den derzeitigen Arbeiten am Postplatz angesichts der kommenden breiteren Straßenbahnfahrzeuge ein Passieren überhaupt möglich sei oder ob noch ein drittes Buddeln am Postplatz die Finanzschatullen belasten werde. René Wendler räumte ein, dass ein Passieren der Bahnen auf Höhe vom Schuhgeschäft Leiser auch weiterhin nicht möglich sei. Aber mit der Neugestaltung am Deminaniplatz wäre es schön, wenn die Trasse mit mehr Abstand zwischen beiden Gleisen vor der Frauenkirche hier noch Schwung gewinnen könnte.
Als alle formalen Redebeiträge durch waren, zog Gastgeber Johann Wagner dann noch die Katze aus dem Sack. An der Leinwand (siehe Titelfoto auf Seite 1) projizierte er eine „Görlitz-Bahn“, also eine Quasi-S-Bahn, in der auf dem flachen Land manchem vom Verkehr Abgehängten das Herz aufgeht. In seiner Vision kann man wieder über Löbau und Herrnhut Oberoderwitz und damit den Anschluss an die Strecke Bischofswerda-Zittau erreichen. Oder über Rietschen hinaus als Endpunkt den Truppenübungsplatz ansteuern. Oder über Rothenburg Lodenau erreichen. Oder über Seidenberg (Zawidow) in Polen das tschechische Wanderparadies Friedland (Frydlant). Träumen muss doch mal erlaubt sein. Das fanden ganz viele toll. Hingegen blieb der Wunsch eines Besuchers nach Oberleitungsbussen zur kostengünstigen Ergänzung des Straßenbahnnetzes seitens der Referenten belächelt. „Da spielt die Politik nicht mit, die der Wirtschaft ganz andere neue Antriebssysteme versprochen hat“, war aus dem Munde pensionierter Experten zu hören, die die Zwänge des Geschäfts kennen.