Auf einmal war da Gewalt im Spiel
Die Experten von der Familienberatung der Diakonie versuchen, Konflikte in Familien aus dem Weg zu räumen. Foto: Holger Hinz
Bautzen. Julia Dickerson und das Team von der beim Diakonischen Werk Bautzen angesiedelten Familien-, Erziehungs-, Lebens- und Paarberatungsstelle werden die vergangenen zwei Jahre mit gemischten Gefühlen in Erinnerung behalten. Auf der einen Seite haben die Experten zahlreiche Schicksale hautnah miterlebt, wenn Kinder und Eltern bei ihnen um Rat fragten. Auf der anderen Seite können sie von sich sagen, ein Stück weit beim Lösen von Konflikten geholfen zu haben. Die Corona-Pandemie mit den damit verbundenen, von der Politik erlassenen Einschränkungen hat auch hierzulande deutliche Spuren in zahlreichen Privathaushalten hinterlassen. Die Rede ist von 500 Familien jährlich, die aus dem gesamten Landkreis nach Bautzen kommen, um bei Julia Dickerson und ihren Kollegen ein offenes Ohr für ihre Situation zu finden.
„Die meisten Familien, die bei uns Beratung aufsuchen, spüren, dass das Konfliktpotenzial in ihrem engsten Kreis steigt. Sie suchen nach neuen Handlungsspielräumen und aktiv nach Unterstützung“, erklärt die Diakonie-Mitarbeiterin. Nicht selten werde in den Gesprächen deutlich, wie hoch der Druck in den jeweiligen Haushalten ist, auch trotz aller Einschränkungen durch die Pandemie den Alltag so zu leisten und zu bewältigen, wie es vorher geschafft wurde. „Viele kommen hier an ihre Grenzen.“ Das spiegle sich zum Teil in den deutlich gestiegenen Fallzahlen beim Thema Kindeswohlgefährdung wider. Deutlich häufiger hätten die Berater in den vergangenen zwei Jahren Gefährdungseinschätzungen vorgenommen.
Sie kommen zu dem Schluss: „Die Zahl der festgestellten Kindeswohlgefährdungen stieg im Vergleich zum Zeitraum vor der Pandemie deutlich.“ Doch woran liegt das? „Zu häufigeren Konflikten, die nicht mit Gewalt einhergehen müssen, kommt es aufgrund von fehlenden Schutzfaktoren“, weiß Julia Dickerson. „Dazu zählen unter anderem zeitliche und räumliche Strukturen. Solche zeitlichen Grenzsteine helfen den Alltag zu sortieren. Genaue Zeiten und Abläufe geben Kindern und Eltern Sicherheit und Struktur.“ Genau hier würden Familien unter den Mehrfachbelastungen der Pandemiesituation leiden.
„Durch Heimarbeit und wiederkehrende Phasen von Homeschooling bis hin zu häuslicher Isolation fehlen vor allem jungen Menschen soziale Räume im Freizeitbereich mit echten Begegnungen und Nähe. Diese außergewöhnlichen Belastungen treffen bestimmte Familienkonstellationen in besonderer Härte. Getrennt beziehungsweise allein erziehende Eltern sind hier als größte Gruppe unter den Ratsuchenden in der Familienberatung zu nennen.“ Auch Gewalt spiele bei solchen Konstellationen mitunter eine Rolle. Diese eskaliere stets dort, wo zu den bereits zuvor vorhandenen Problemfeldern wie Arbeitslosigkeit, psychische Erkrankung, Sucht oder fehlende Möglichkeiten für eine gewaltfreie Konfliktlösung einst stabilisierende Strukturen durch den Lockdown weggefallen sind. Allerdings ist Gewalt häufig nicht auf den ersten Blick sichtbar, weiß die Expertin aus Erfahrung. „Neben körperlicher Gewalt spielt psychische eine große Rolle“, erklärt sie. Dazu würden Erniedrigung, Abwertung und eine gewisse Abhängigkeit innerhalb der Familienbande zählen. „Kinder als Zeugen von jeglicher Gewalt zwischen Eltern sind zugleich Opfer und Betroffene. Gewalt kommt in allen Gesellschaftsschichten und unabhängig von Bildung und beruflicher Stellung vor.“
Um sowohl den Nachwuchs als auch Erwachsene nachhaltig vor solchen Auswüchsen zu schützen, braucht es gute Netzwerke und niedrigschwellige Angebote, meint Julia Dickerson. Neben der Opferberatung und die Interventionsstelle gegen häusliche Gewalt verweist sie in dem Zusammenhang auf die Familienberatungsstelle der Diakonie. Diese biete bereits seit vielen Jahren eine offene Sprechstunde für akute Anliegen und Fragen an – und zwar immer dienstags von 9.00 bis 11.00 Uhr.