Bleibt Europa in seinem funktionalen Korsett?
Vorne v.l.nr. Minister Thomas Schmidt, EU-Kommissar Nicolas Schmit, Landrat Dr. Stephan Meyer und OB Octavian Ursu liefen auf der Altstadtbrücke bis zum polnischen Brückenkopf. Foto: M. Wehnert
Der EU-Kommissar für Beschäftigung und soziale Rechte, Nicolas Schmit, hat mit dem sächsischen Minister für Regionalentwicklung Thomas Schmidt Gespräche über den Strukturwandel im Lausitzer Braunkohlerevier und zur Umsetzung von EU-Förderungen im ländlichen Raum gesucht. Der Niederschlesische Kurier blieb den beiden und ihrer Entourage auf den Fersen.
Görlitz / Kreba-Neudorf / Boxberg. Im Görlitzer Rathaus erläutert Oberbürgermeister Octavian Ursu Nicolas Schmit, der als EU-Kommissar quasi als EU-Minister zu verstehen ist, dass es in der Europastadt an der Neiße „ganz viele grenzüberschreitende Projekte“ gebe und man hier vom Kindergarten bis zur Hochschule in beiden Nachbarsprachen wandeln könne. Der aus dem luxemburgischen Differdingen stammende Nicolas Schmit kennt die Grenznähe von daheim nur zu gut, wo das SaarLorLux-Ticket (SAARland/Lothringen (LORraine)/LUXemburg) mit einem Tarif großflächig drei Staaten verbindet. Er springt begeistert auf die dagegen als bescheiden anmutende grenzüberschreitende Fahrkarte ab 1. Januar 2023 im geteilten Görlitz an. Man hört Schmit mit seiner fast großväterlich-gönnerischen Stimme gerne zu, zumal diese im Moselfränkisch-Lëtzebuergeschem Zungenschlag und mit manchen Anleihen aus dem Französischen hin und wieder Schmunzeln auslöst. „Ja, das gemeinsame Tické ist eine ganz tolle Sache“, sagt er.
Staatsminister und Fast-Namensvetter Thomas Schmidt lässt im Saal Fördervolumen im Lausitzer Revier und Raumstrukturen an die Wand projizieren, Landrat Stephan Meyer führt aus, er spreche lieber von einer Dreiländerregion als despektierlich vom Dreiländereck und ebenso sollte man von einer Strukturentwicklung statt von einem Strukturwandel reden. Klaus-Peter Hansen von der Regionaldirektion der Agentur für Arbeit betont, wie wichtig funktionierende Kommunikations- und Infrastrukturnetzwerke sind und sieht bei der Bundesagentur in Weißwasser „finanziell attraktive Arbeitsplätze“. Also Staat statt Wertschöpfung aus sich selbst als Fundament? Der für die Region stets gerufene Soziologe Prof. Raj Kollmorgen von der Hochschule Zittau/Görlitz will den Reigen der Wortmeldungen zunächst nicht unbedingt in die Länge ziehen.
Er betont dann aber im bewährten Textbaustein noch knapp, „dass hier im Raum sicherlich niemand die Sicht von Populisten goutiert“.
Den einzigen Applaus gibt es dann jedoch, als die ’Kulturerbetage’ als Kooperation von Kulturservicegesellschaft, polnischer Stadtverwaltung und Freier evangelischer Gemeinde vorgestellt werden und beweisen, dass nicht automatisch beide Stadtverwaltungen zusammen ein Projekt tragen müssen. Vor allem aber stellt diese Präsentation als einzige die kulturgeschichtlichen Wurzeln als Antrieb für künftiges Handeln in den Fokus. Das hebt sich ab.
Nicolas Schmit bleibt aber allen gegenüber galant: „Vielen Dank für all diese Ideen. Ich weiß, dass Sie gut unterwegs sind“, spricht der EU-Kommissar aus Luxemburg ein Generallob aus, ehe vor dem Rathaus und auf der Stadtbrücke einige Minuten die Welt da draußen inhaliert wird.
Anschließend geht es weiter nach Kreba-Neudorf, wo dem überaus aktiven Bürgermeister Dirk Naumburger die Ehre zuteilwird, Gastgeber in der Grundschule im Schloss für neue Gesprächspartner aus dem ländlichen Raum zu sein. Überhaupt die Schule – ihr Erhalt sei die wichtigste Aufgabe der letzten Jahre gewesen, um dem Ort Zukunftsperspektiven zu geben, eröffnet der Gastgeber.
Der Niederschlesische Kurier kann bei einer Pause bei Soljanka und Kuchen hier nun auch eine Frage an den Gast aus Differdingen richten, das als Stadt mit Tagebau und Stahlwerk ebenso Erfahrungen im Strukturwandel hat – allerdings eben im Fadenkreuz zentraler europäischer Verkehrswege! Kann man da also Luxemburg und die geografisch benachteiligte Niederschlesische Oberlausitz so einfach im Strukturwandel vergleichen? „Wir müssen eben dafür sorgen, dass diese Region nicht geografisch benachteiligt ist. Das erreicht man, indem man die wirtschaftliche, demografische und soziale Entwicklung in allen Teilen Europas unterstützt. Heute gibt es im Land Sachsen enormes Potenzial mit Universitäten, Forschungsinstituten etc. Es ist zwar nicht das volle Zentrum von Europa, aber dieses hat sich auch verschoben“, erklärt Schmit und führt ergänzend die Zugkraft der Nachbarn Polen und Tschechien ins Felde.
Die Landluft in Kreba-Neudorf macht die Themen insgesamt nun griffiger. Domowina-Chef Dawid Statnik stellt die Lage der sorbischen Volksgruppe vor und er betont: „Man hört oft: Lausitz, da ist nichts los. Man kann aber positiv auch sagen: Lausitz, da ist viel Platz.“ Nicolas Schmit lächelt freudig. In der Runde sind Jugendverein und Kreba-Fisch GmbH vertreten und konkrete Erfahrungsberichte mit Interreg-Förderprogrammen lassen erstmals auch echten Wissenszuwachs beim EU-Kommissar erahnen. Er hört, 2008 bis 2014 sei Leader noch ein normales Förderprogramm gewesen, anschließend habe man in Sachsen eine echte Bottom-Up-Entwicklung erlebt, also eine Bedarfsplanung von unten nach oben, „da ist auch mal eine Straßenlaterne drin“ ist vorbei am engen Korsett vieler Förderprogramme zu hören. Als „erfüllende Gemeinde“ für Kreba-Neudorf fungiert Rietschen, dessen Bürgermeister Ralf Brehmer bestätigt, dass man in vielen anderen Bundesländern neidisch auf die Leader-Entwicklung im Freistaat schaue.
Im Kraftwerk Boxberg schließlich will Nicolas Schmit unter anderem wissen, wie lange man hier noch Kohle fördern könnte, wenn nicht 2038 als Ausstiegsziel im Raum stünde. LEAG-Vorstand Hubertus Altmann signalisiert noch einen theoretisch langen Abbau, aber diese Debatte wolle man nicht mehr führen, gibt er ganz nach Drehplan zu Protokoll. Hier geht es – wie zu erwarten war – eher um die Beruhigung der Arbeitnehmerschaft.
Hat der Tag aber einen Schub für die Idee Europa gebracht? Viele heiße Eisen kommen nicht zur Sprache, angefangen damit, dass 102.316 Luxemburger von einem Europaparlamentarier vertreten werden. In Deutschland sind es 864.783! Ein kapitales Demokratiedefizit im Hinblick auf gleiche demokratische Repräsentanz. Und nach wie vor werden die Mitglieder der EU-Kommission – der Regierung der EU – von den Regierungen der EU-Staaten nominiert. In Görlitz betonte Schmit: „Staaten wollen wir nicht abschaffen“, doch seine Betonung der Bekämpfung des Klimawandels klingt deutlich entschlossener. Was macht es da schon, wenn volle Demokratie weiter fehlt?