Direkt zum Inhalt springen
Info & Kommentare

Das Erbe des 17. Juni auf dem Prüfstand

Das Erbe des 17. Juni auf dem Prüfstand

Roland Vörös (li.) initiierte eigens für den NSK eine Kunstaktion. Am Obersteinweg in Görlitz, wo „1953“ in das Kopfsteinpflaster eingelassen ist, erinnerte er daran, dass sich Intelligenz und Arbeiter am 17. Juni gemeinsam ihrer Fesseln entledigen wollte

Heute vor genau 70 Jahren erhob sich die DDR und insbesondere Görlitz gegen das damalige Unrechtsregime. Der Tag holte die Redaktion dieser Tage mehrfach ein. Zuerst durch eine Kunstperformance, dann mit einem Zeitzeugengespräch, das eindrücklich zeigte, dass der Kern des Unrechts jegliche Einzäunung und die Isolierung der Träger freier Gedanken ist.

Görlitz
. Verwirrung vor einigen Tagen am Obersteinweg in der Görlitzer Nikolaivorstadt: Wieso entladen drei mit Transporter und Anhänger gekommene Menschen mitten auf der Straße ein mit Stacheldraht versehenes massives Holztor, bauen dies auf, machen für einige Minuten Fotos, bauen die schwere Konstruktion jedoch sofort wieder ab und ziehen so spurlos von dannen, wie sie gekommen sind?
Der Görlitzer ist solche Merkwürdigkeiten gewohnt, denn mitunter geht es um richtige Einstellungen für die Görliwood-Szene. Die Auflösung liegt hier jedoch im 70. Jahrestag des Volksaufstandes in der DDR, der in Görlitz besonders stark aufloderte, wie ein Zeitzeugenbericht des heute in Berlin lebenden Oberbaurats Wolfgang Liebehenschel belegt, den Sie in dieser Ausgabe ebenfalls finden. Diese Erinnerung ist die eigentliche Titelgeschichte!

Holzkünstler Roland Vörös mit Helfer sowie Redaktion waren die drei, denen vor wenigen Tagen jedenfalls der Zufall in die Hände spielte. Da im Ober-steinweg eine Baustelle ohnehin den hier schwachen Verkehr behinderte, führte der Aufbau des Tores zu keiner wirklichen Beeinträchtigung. Bereits im Oktober 2019 hatte der in Görlitz lebende ungarische Holzkünstler Vörös in dankbarer Erinnerung – genau 30 Jahre nach Öffnung der Grenze zwischen Ungarn und Österreich, was den Fall der Mauer im November anbahnte – ein Stück des Eisernen Vorhangs aus Holz symbolisch nachgebaut. Damals Titelgeschichte im Niederschlesischen Kurier, kam Vörös nun erneut auf die Redaktion zu. Auch aus der eigenen ungarischen Aufstandsgeschichte (dort 1956) bot er eine Kunstperformance an, bei der das Kunstwerk noch einmal in Szene zu setzen sei.

„Ich bin auf die Idee gekommen, weil ich entdeckt hatte, dass im Obersteinweg die Jahreszahl 1953 in Basalt in das Pflaster eingelassen ist. Wieso weiß ich nicht. Ich habe den Hintergrund dafür gar nicht recherchiert, aber diese Jahreszahl hat mich ohnehin einfach magisch angezogen“, bekundet der Künstler am Ort des Geschehens.

Und Vörös sorgt sich, dass sich die Denkräume 70 Jahre später mit steigender Dynamik wieder verengen, während der Mythos 1953 oft nur beschworen wird. „Geschichte ist aber kein leeres Erbe, die menschlichen Verwerfungen schlummern weiter und Interpretationen sind meines Erachtens oft abenteuerlich.“

Feststeht, der 17. Juni und die besondere Rolle, die Görlitz 1953 spielte, werden am 17. Juni 2023 einen festen Platz in der Stadt haben und es lohnt sich sicher zwischen den Zeilen genau hinzuhorchen, welche Schlussfolgerungen die Politik heute zieht. Gelegenheit, eine Einordnung vorzunehmen hat jeder, der der offiziellen Gedenkveranstaltung mit Redebeiträgen und Kranzniederlegung für die Opfer des Volksaufstandes am Postplatz um 16.00 Uhr beiwohnt. Die Eröffnung vor dem Gebäude des Landgerichts erfolgt durch Musiker des Lausitzer Blechbläserensembles. Vor der Kranzniederlegung sprechen Oberbürgermeister Octavian Ursu sowie Ministerpräsident Michael Kretschmer. Die Bläser spielen abschließend das Lied der Deutschen.

Ohne die Öffentlichkeit geht es um 17.00 Uhr mit dem Eintrag von Prof. Stephan Harbarth, dem Präsidenten des Bundesverfassungsgerichtes sowie von Bronislaw Komorowski, dem einstigen polnischen Präsidenten, in das Rathaus, wo sich die Ehrengäste in das Goldene Buch der Stadt eintragen.

In einer Pressemitteilung der Staatskanzlei wird Landesvater Kretschmer im Hinblick auf die Aufständischen des 17. Juni 1953 zitiert: „Ihr Protest für Freiheit und Demokratie wurde mit Gewalt niedergeschlagen. Die Sehnsucht nach Freiheit aber konnte die SED-Führung damit nicht auslöschen. Sie wurde schließlich von den vielen mutigen Menschen im Herbst 1989 in der Friedlichen Revolution errungen. Mit den zahlreichen Veranstaltungen in Sachsen wollen wir die Erinnerung wachhalten und anregen, über die Bedeutung der damals erkämpften Freiheit und die aktuellen Herausforderungen für die Demokratie neu nachzudenken. Es ist unsere Aufgabe, Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit immer wieder aufs Neue zu verteidigen.“

Einen Auftakt bilde eine ’Jugendfreiheitskonferenz’ am 16. Juni in Dresden. Die zentrale Festveranstaltung des Freistaates Sachsen findet angesichts des 1953 in Görlitz besonders intensiven Geschehens um 18.00 Uhr im Kulturforum Görlitzer Synagoge statt, wo eine Diskussionsrunde über die „Bedeutung des 17. Juni 1953 für die Demokratiegeschichte in Deutschland und Europa“ mit Michael Kretschmer, Stephan Harbarth, Bronislaw Komorowski und der Vorsitzenden des Ost-Görlitzer (Zgorzelec) Stadtrates Katarzyna Murmylo in Moderation der Landesbeauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur Dr. Nancy Aris den Tag schließt.

Im Vorfeld des Jahrestages hatte die Sächsische Staatskanzlei über die Stiftung Sächsische Gedenkstätten 50.000 Euro für die Förderung von Projekten zum 17. Juni zur Verfügung gestellt. Weitere Projekte im Jahresverlauf würden mit 200.000 Euro gefördert, diesbezügliche Anträge können ab sofort beim Zentrum für Kultur und Geschichte e.V. gestellt werden.

Performances sollen auch in Görlitz dem Gedenken und der Reflexion des 17. Juni 1953 dienen. Mit den Görlitzer Theatergruppen Impro-Theater und Theater Ost entwickelte das Studentenensemble des Gerhart-Hauptmann-Theaters fünf Szenen und Performances zur Versinnlichung der Ereignisse vor taggenau 70 Jahren für die Görlitzer Innenstadt. Es sind: „Die Wochen davor – Performance zur Ausgangslage des Aufstandes aus Perspektive der Görlitzer Stadtbevölkerung“, Marienplatz, 10.00 bis 10.30 Uhr; „Die Werksversammlung – Rhetorik einer hochkochenden Revolution“ vom Balkon des Gerhart-Hauptmann-Theaters von 11.00 bis 11.30 Uhr, „Die Reden des 17. Juni 1953 – Improvisationstheater inspiriert von den Stadtfunkreden des 17. Juni 1953“ in den Rathausarkaden des Untermarktes von 13.00 bis 13.30 Uhr, „Ordnung im Chaos – Performance im Spannungsfeld zwischen chaotischem Umsturz und der Errichtung alternativer Strukturen“ am Untermarkt von 13.40 bis 14.15 Uhr sowie eine Stadtschreiberaktion. Anliegen der Görlitzer werden gesammelt und festgehalten. Letzteres von 14.30 bis 16.00 Uhr am „Spielort“ Salomonstraße 2.

Im Niederschlesischen Kurier gab es dazu auch den Kommentar: "17. Juni: Dresdner 'Wünsch dir was'"

Eigentlich sollte der 17. Juni ein Tag des Gedenkens sein. Doch in Görlitz muss sich der Tag nun scheinbar politscher Umdeutung unterordnen. Wie sonst ist zu verstehen, dass Deutschlands oberster Verfassungsrichter, Prof. Stephan Harbarth, unter dem Freiheitsrechte des Einzelnen gegenüber vermeintlichem Kollektivschutz dank Klimanarrativ und Corona, zuletzt erheblich an juristischem Boden verloren haben, ebenso mit dem Eintrag in das Goldene Buch der Stadt einen Auftritt bekommt wie der ehemalige polnische Präsident Bronislaw Komorowski? Auch sein Besuch ist ein Politikum! Dass das im niederschlesischen Obernigk (Oborniki Slaskie) geborene politische Schwergewicht an der Schnittstelle beider Staaten seine Aufwartung macht ist logisch. Doch in Polen sind im Herbst Parlamentswahlen. Hier schaltet sich der Freistaat und Görlitz also unverhohlen mit ihrer Unterstützung der Opposition in den Wahlkampf ein. Daran könnten sich eventuelle Wahlsieger eines Tages vielleicht erinnern. Und sind das alles nicht Dinge, die in Dresden erdacht und in Görlitz nur artig umgesetzt werden?

Till Scholtz-Knobloch

Till Scholtz-Knobloch / 18.06.2023

Schlagworte zum Artikel

Was sagen Sie zu dem Thema?

Schreiben Sie uns Ihre Meinung

Die Mail-Adresse wird nur für Rückfragen verwendet und spätestens nach 14 Tagen gelöscht.

Mit dem Absenden Ihres Kommentars willigen Sie ein, dass der angegebene Name, Ihre Email-Adresse und die IP-Adresse, die Ihrem Internetanschluss aktuell zugewiesen ist, von uns im Zusammenhang mit Ihrem Kommentar gespeichert werden. Die Email-Adresse und die IP-Adresse werden natürlich nicht veröffentlicht oder weiter gegeben. Weitere Informationen zum Datenschutz bei alles-lausitz.de finden Sie hier. Bitte lesen Sie unsere Netiquette.

Weitere aktuelle Artikel