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Der Kritiker ist doch der beste Freund!

Der Kritiker ist doch der beste Freund!

Anja-Christina Carstensen stellte sich mit sehr persönlichen Bekenntnissen in einem über dreistündigen Gespräch weit über die Inhalte dieses Beitrages Fragen der Redaktion. Foto: Till Scholtz-Knobloch

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Janett Conrad und Marcus Kossatz. Foto: Bündnis 90/Die Grünen

Anja-Christina Carstensen ist eine der beiden neuen Sprecherinnen vom Bündnis 90/ Die Grünen in Görlitz. Die Tochter des ehemaligen schleswig-holsteinischen CDU-Ministerpräsidenten Peter Harry Carstensen ist von daheim geübt, sich an gegensätzlichen Meinungen abzuarbeiten und dabei dennoch die Arbeit des anderen zu schätzen.

Görlitz. Im Dezember wählte der bündnisgrüne Stadtverband turnusgemäß einen neuen Vorstand und verabschiedete nach langjähriger Vorstandsarbeit die beiden bisherigen Sprecher Janett Conrad und Marcus Kossatz.

Mit der langjährigen Betriebsrätin Ortrud Steinführ (67) und der einstigen wissenschaftlichen Mitarbeiterin im Bundestag Anja-Christina Carstensen (51) weht nun eine neue Brise. Carstensen ist Tochter des einstigen, aus Nordfriesland stammenden, Schleswig-Holsteinischen Ministerpräsidenten Peter Harry Carstensen. Wer aus Nordfriesland von der Halbinsel Nordstrand stammt weiß natürlich: „Diar di Dik liigst es, gair di Flör jest aur“ (Wo der Deich am niedrigsten ist, geht die Flut zuerst herüber). Immerhin ist Nordstrand neben der Insel Pellworm und der Hallig Nordstrandischmoor auch nur der Rest der 1634 durch eine Sturmflut zerrissenen Insel Strand. Und so hat sich Anja-Christina Carstensen bereits 2011 auf für Menschen von der Küste schwindelerregenden 201 Metern Normalhöhennull in Görlitz ihr Plätzchen gesucht. Dabei stellt sie klar, dass nicht Friesisch, sondern Pladdütsch in ihrem Umfeld dominiert hat.

Das unaufgeregte Nebeneinander verschiedener Sprachgruppen, die fließend wechseln – insbesondere auch von Deutschen und Dänen – habe sie so in Görlitz leider nicht gefunden. Vielmehr spüre sie häufig Bitterkeit und Unverständnis.

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Den neuen Vorstand führen die beiden neuen Sprecherinnen Ortrud Steinführ (weißer Pullover) und Anja-Christina Carstensen (links neben ihr). Foto: Bündnis 90/Die Grünen

Ihr Weg in die Ferne sei zunächst dennoch ein Weg familiärer Abnabelung gewesen. „Mit zwölf Jahren war ich schon in der Qunita schulpolitisch aktiv“, bekennt sie und führt das auch darauf zurück, dass man sich im Hause eines Spitzenpolitikers argumentativ noch mehr ins Zeug legen müsse. „Das ist natürlich eine Aufgabe, sich mit einem geschulten Rhetoriker über das Taschengeld auseinandersetzen zu müssen. Ich habe damals gelernt, aus schwieriger Position heraus etwas begründen zu müssen.“

Und sie ergänzt: „Man sieht sich auch in jungen Jahren die Reden vom Vater im Plenum an und hält ihm Inhalte dann natürlich auch gerne vor, wenn die Umsetzung einer Idee daheim so eben nicht läuft.“ Im Übrigen habe sie einen Kampf auch außerhalb führen müssen, wenn ein Lehrer etwa verlangte, dass eine staatsbürgerkundliche Erläuterung am Beispiel des Vaters erfolgen solle. Sie habe sich davor stets verwahrt und eingefordert wie andere auch, aus einer allgemeinen Überlegung heraus zu antworten. Vielmehr habe sie manches Verhalten von Lehrern gar als eine „Rache des kleinen Mannes“ empfunden gegenüber der noch kleineren Tochter.

Aus diesem Grund habe sie ihren Weg zunächst in einem Studium der Keramik in Kunst und Design in Polen gesucht. Sie sei erst einmal Exotin gewesen und habe die ganze Bandbreite an Erfahrungen zu Hilfsbereitschaft und Vorbehalten gemacht. Ihr Großvater mütterlicherseits sei mit den ganzen Erfahrungen einer polnisch-deutsch-jiddisch-russisch geprägten Stadt aus Lodsch nach Schleswig-Holstein gekommen und habe christliche Maßstäbe in der Familie gesetzt. „Mein Vater hatte keine Kontakte nach Polen“. So habe sie ohne den alles überstrahlenden Vater einen eigenen Weg vor dem Hintergrund einer anderen familiären Vorprägung suchen können. Das alles ändere aber nichts daran, dass sie und ihr Vater absolut im Reinen seien.

„Ich kannte es, dass es in meinem elterlichen Haushalt Morddrohungen ankamen; wir hatten eine ganz normale Telefonnummer, die für alles genutzt wurde“. Denn ihr Vater habe gar kein Regionalbüro unterhalten. Und wenn wir als Kind ans Telefon gingen, war schon mal das Kanzleramt dran gewesen und verlangte nach dem Vater. „Eine ständige Bedrohung führt zu Achtsamkeit“, sagt sie sehr konzentriert und findet darin auch Positives: „Selbst wenn das die Freizeit einschränkt, ist man auch aus dem Trott raus“. Nur der Gang über den Wochenmarkt habe oft Stunden gedauert. Ihr Vater hätte mit großer Geduld immer allen Rede und Antwort gestanden und am Wochenende selbst auf Nachrichten auf Band reihenweise Rückrufe getätigt. Und das wohlgemerkt nicht im Parteiapparat, sondern gegenüber jedem, der die nicht geheime Nummer im Telefonbuch gefunden habe.

Sie halte dieses Vorbild in Ehren und stellt sich jedem, der das Parteibüro betritt. Zuletzt habe sie sich jedoch geärgert, dass Besucher zwar ihren Dampf abgelassen hätten, dann aber scheinbar irritiert gewesen seien, dass ihr Gesprächsangebot echt war und sich selbst zurückzogen – überdies auch unter Vorspielung falscher Tatsachen.

Doch wie lassen sich Unterschiede in politischen Ansichten familiär auffangen? Ihr Vater habe zwar anfangs gesagt: „Du bist echt bei den Grünen?“, doch entscheidender sei seine heutige Anerkennung: „Ich bin bannig stolz auf Dich“, habe er zuletzt gesagt und damit vor allem dem Engagement Respekt gezollt. Überdies bekennt sie: „Ich bin so konservativ, dass ich nur bei den Grünen sein kann“, dies zeige sich etwa bei ihrer Ehrfurcht vor dem kulturellen Erbe von Görlitz. Der Umgang bei den Grünen sei dabei hochdemokratisch ohne Überlegenheitsdünkel. Ihr Vater hätte ihr auch schon einmal bei einer Kritik an der CDU Sachsen beigepflichtet.

Als Kleingartenvorsitzende habe sie zuletzt erlebt, dass, wenn etwas kompliziert und formal erklärt wird, zu schnell Aufregung herrsche. Mit norddeutscher Bedacht gelte für sie das Prinzip „Ich suche und probier mal“. Man müsse dabei aber auch dem Prinzip folgen, beim anderen erst einmal eine positive Absicht zu unterstellen. 

Besonder nachdrücklich wird Anja-Christina Carstensen, die beiläufig schmunzelnd einräumt, als Kind einmal auf den Schultern von Uwe Barschel gesessen zu haben, bei einer prägenden Erinnerung, mit der sie Auswüchse eines neoliberalen Weltbildes anschaulich machen will. Am Abend als ihr Vater zum Ministerpräsidenten gewählt worden sei, habe sie mit Abscheu erlebt, wie sich Fotojournalisten in den ersten drei Reihen um die besten Bilder geprügelt hätten. „Das gab es wenige Jahre zuvor nicht, doch eine Entlassungswelle einer großen Zeitung hatte nun viele Einzelkämpfer produziert, die nun alle um jedes Bild kämpfen mussten.“

Und genau das sei die gesellschaftliche Gefahr. Ihr Onkel sage immer: „Was ich selber denk und tu, trau ich auch jedem anderen zu.“ Dies sei ebenso eine Gewissheit wie der Umstand, dass sie eine gewisse Durchgeknalltheit schon als Vorteil erachte, damit überhaupt Reflexionen eintreten. Am Ende gilt: „Der Kritiker ist der beste Freund“. Und das klingt so, als gelte dieser Satz noch einmal ganz besonders ihrem Vater.

Dem neuen Vorstand gehören neben den Sprecherinnen Ortrud Steinführ und Anja-Christina Carstensen natürlich weitere Aktivposten an. Dies sind Alexandra Grochowski (36 Jahre, beeidigte Übersetzerin und Geschäftsleiterin vom Meetingpoint Memory Messiaen e.V. sowie der Gedenkstätte Stalag VIII A), Ursula Geßner (72 Jahre, Bürgerrätin und ehemalige Abgeordnetenassistentin im Bayerischen Landtag), Joachim Urban (76 Jahre, Rentner) und Martin Bandel (59 Jahre, Orchestermusiker bei der Neuen Lausitzer Philharmonie).

Till Scholtz-Knobloch / 11.01.2025

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