Die Pest kam aus Bautzen nach Görlitz
Bei der Auftaktveranstaltung zur 950-Jahr-Feier der Stadt Görlitz am 4. Juni trat Puppenspielerin Anne Swoboda bereits vor ihrem Elternhaus, dem kleinsten Hallenhaus der Stadt in der Brüderstraße, auf. Foto: Matthias Wehnert
Auch dieser Wegweiser nach Rothenburg aus unmittelbarer Nachkriegszeit in kyrillischer Schrift ist in der Sonderausstellung zu sehen. Foto: Till Scholtz-Knobloch
In ihrer neuen Sonderausstellung präsentieren die Görlitzer Sammlungen ab 19. Juni 2021 Höhen und Tiefen der 950-jährigen Geschichte Görlitz’ – von der Ersterwähnung über die unmittelbare Gegenwart bis hin zu einem Blick in die Zukunft. Doch genau dabei instrumentalisiert das Museum Inhalte für das Heute.
Görlitz. Beim ersten Blick in die zweite Etage des Kaisertrutzes könnte man angesichts gelber Paletten mit schwarzem Besatz, auf denen die Exponate zu sehen sind, denken, dass hier die Geschichte der SG Dynamo Dresden gewürdigt wird. Doch schnell folgt man auf großen Monitoren realen und fiktiven Personen der Görlitzer Stadtgeschichte und verwirft den quitschgelben Gedankenblitz.
Lokale Künstler und Schauspieler sind in die Rolle der Zeitzeugen geschlüpft und berichten in Videos von der Entstehung der städtischen Gemeinschaft, über verpasste Chancen, von Krankheiten, Kriegen, Feuerkatastrophen sowie Chancen der Europastadt.
Für die Ausstellung hat die Produktionsgesellschaft Walkomedia die Videobeiträge produziert, bei denen die Görlitzer Schauspieler und Sänger Carsten Arbel, Stefan Bley, Piotr Ozimkowski, Andreas Rüdiger, Marc Schützenhofer und Hans-Peter Struppe, Abiturient Jakob Gilg sowie die Künstlerinnen Julia Boegershausen und Anne Swoboda mitgewirkt haben.
Jasper von Richthofen erklärt Planungsvisionen für die Stadt aus dem 19. Jahrhundert an der Karte. Foto: Till Scholtz-Knobloch
Letztere führt am Samstag, dem 19. Juni, 14.00 Uhr, sowie auch am 9. Juli, 17.00 Uhr und am 10. Juli um 14.00 Uhr übrigens über „Mehr als 950 Schritte“ mit einem theatralen Stadtspaziergang mit Puppen und Objekten zur Görlitzer Geschichte durch die Stadt. Karten dafür gibt es bei Voranmeldung in der Görlitzinformation.
Als einziger Beitrag der Stadt Görlitz zum 950. Stadtjubiläum ist jedoch unter Corona die Ausstellung im Kaisertrutz übriggeblieben, die so auch ohne offizielle Einweihung auskommen muss. In einer Führung nahm am Mittwoch Dr. Jasper von Richthofen als Chef des Museums die Presse an die Hand, um Leitgedanken und Inhalte der Schau zu erläutern, die bis zum 2. Januar 2022 zu sehen sein soll.
Er betont, dass sich diese vor allem durch die Präsentation von originalen „Schlüsselobjekten“ wie der Urkunde zur Proklamation der Europastadt auszeichne. Und vor allem natürlich der Urkunde vom 11. Dezember 1071, in der das Dorf Görlitz als Geschenk an den Bischof von Meissen erstmals genannt ist. Das lichtempfindliche Objekt wurde vom Staatsarchiv in Dresden im Original zur Verfügung gestellt, stelle im Grunde jedoch „ein zufälliges Schlaglicht aus der Geschichte“ dar, denn bereits im 9. Jahrhundert habe es ja eine slawische Burganlage der Milzener gegeben. Freiherr von Richthofen betont, dass es vor allem um die Wendepunkte in der Geschichte gehe und dass man Weichenstellungen aus dem Einst, Jetzt und der Zukunft diskutieren wolle.
So habe Görlitz 1378 mit der Erhebung zur Herzogsresidenz eine große historische Chance erhalten; ein Gespräch auf einem Monitor macht dann deutlich, dass Bürger damals – ebenso wie heute – über Belastungen durch die Obrigkeit, wie auch Chancen durch das Renommee dank Ritterspielen auf dem Untermarkt diskutiert hätten. Nach dem Dreißigjährigem Krieg hingegen sei die Leinweberei um Zittau aufgeblüht und nun hängte Zittau Görlitz, das diesen Trend verschlafen habe, erst einmal ab.
Im frühen Deutschen Kaiserreich des ausgehenden 19. Jahrhunderts habe es einen Entwurf zur Entwicklung neu entstehender Quartiere für bis zu 180.000 Einwohner gegeben. Während der Stadt die seinerzeit entworfenen Achsen blieben, sei die Ringstraße als Einfassung nie entstanden. Zum Vergleich: 1880 hatte Köln 144.772, Stuttgart 117.303 oder Breslau 272.912 Einwohner.
Der Ausstellung gelingt es also, Weichenstellungen der Geschichte deutlich sichtbar zu machen. Allerdings entsteht der Eindruck, dass diese immer wieder als Belege für Weichenstellungen der Jetztzeit herhalten müssen.
Im 16. Jahrhundert habe Scultetus erstmalig den Verlauf einener Pandemie anhand einer Karte und dem Pest-Infektionsgeschenen Haus für Haus dokumentiert. Erstmals trete die Enge von Menschen als Ursache für Infektionen hervor. Daraufhin seien Badehäuser geschlossen worden – der Lockdown sei also keine Erfindung von heute. Nur – die Pest raffte einst Bevölkerungsmehrheiten von Städten dahin. Lockdown damals und heute stehen also nur sehr bedingt auf einer Stufe. Immerhin war damals schon die Konkurrenz mit Bautzen sichtbar und so lautet eine historische Fußnote, dass zwei Marktleute aus Bautzen die Pest in die Neißestadt brachten.
Doch als letzte Station wird dann auch die Brechstange ausgepackt. Wie sieht Görlitz 2051 aus? Seicht dürfen Besucher Zettelchen kleben, was sie sich für die Zukunft wünschen und auf einer großen Tafel werden vermeintliche Gegenpole künftiger Entwicklungen aufgestellt, deren Schwarz-Weiß-Malerei einem Schulprojekt der 7. oder 8. Klassenstufe entstammen könnten und einem Museum eigentlich unwürdig sind.
So lautet auf einer Tafel die politische Negativvision: „Seit Jahrzehnten wird die Stadtpolitik durch populistische Parteien bestimmt. Sie betreiben eine Kommunalpolitik, die ausschließlich den Interessen ihrer jeweiligen Wählerschaft dient“, Gewaltausbrüche seien die Folge. Dass die Entstehung populistischer Parteien vielmehr gerade die Folge davon ist, dass Parteien eine Politik betrieben haben, die ausschließlich den Interessen ihrer jeweiligen Wählerschaft dient, wird dabei auf den Kopf gestellt. Und mit derartigen Argumentationsmustern könnte sich die Ausstellung selbst zum Instrument der Spaltung der Gesellschaft machen. Jasper von Richthofen fragt: „Görlitzer Bevölkerung: Gibt es die überhaupt?“ Auch diese Fragestellung kommt uns doch irgendwie bekannt und abgenutzt vor. Migration als reine Konstante – gelöst vom Kontext ihrer Art und ihrer Zeit.