Dresden, wir Bürgermeister stehen vor dem Finanzkollaps!
Kodersdorfs Bürgermeister René Schöne, der für die Gemeinden im Kreis Görlitz bei der SSG den Hut auf hat, gehörte zu den Erstunterzeichnern des Brandbriefes. Foto: Matthias Wehnert
Landkreis Görlitz. Ministerpräsident Kretschmer, Finanzstaatsminister Vorjohann sowie die Abgeordneten im Dresdner Landtag sind die Adressaten eines öffentlichen Brandbriefes von 31 Bürgermeistern im Landkreis Görlitz, das am Rande einer Tagung des Sächsischen Städte- und Gemeindetages (SSG) aufgesetzt wurde. Zittaus Bürgermeister Thomas Zenker, der die Presseinformation übernahm, betonte wie ungewöhnlich es sei, dass Bürgermeister „deutliche ’Warnhinweise’ an den Freistaat richten.“
Ausgangslage sei das dramatische Defizit bereits 2022 bei Sachsens Kommunen über 342 Millionen Euro. „Verantwortlich sind die stark gestiegenen Aufwendungen besonders für Personal, Energie und bei Landkreisen und Kreisfreien Städten insbesondere die Sozialausgaben.“ Hinzu kämen etwa energiepolitische Entscheidungen des Bundes sowie Belastungen illegaler Zuwanderung. „Die Verunsicherung“ in der Bevölkerung seien auf einem Höchststand.“
Exemplarisch stehe der Landkreis Görlitz mit seiner Finanzmisere „unmittelbar vor der Zahlungsunfähigkeit“. Da nicht Missmanagement vor Ort, sondern unter anderem bekannte strukturelle Defizite ursächlich seien, habe der Kreistag 2021 einstimmig beschlossen, gegen das Sächsische Finanzausgleichsgesetz und die unzureichende finanzielle Ausstattung durch den Freistaat zu klagen.
Seither habe sich die Lage extrem zugespitzt, daran könnten kurzfristig wirkende Bedarfszuweisungen nie etwas wirklich ändern.
Da die Kreisumlage – also die Beiträge der Gemeinde an den Kreis – 2010 bereits von 28 auf 36 Prozent gestiegen sei, lasten die Probleme zunehmend auf diesen, während Steuereinnahmen bei zwei Dritteln des gesamtdeutschen Niveaus stagnieren. Anstrengungen zur Meisterung des Strukturwandels würden geradezu konterkariert. Die Unterzeichner fordern unter anderem die Abkehr von der Übertragung ressourcenverschlingender Aufgaben und ausbordenden Standards. Nötig sei „eine der Tarifentwicklung angepasste Dynamisierung der Landeszuschüsse für den Kitabereich“, Entbürokratisierung wichtiger Förderinstrumente, mehr sächsischer Einfluss auf Gesetzgebungsverfahren im Bund und der EU und höhere Anteile der Gemeinden am Steueraufkommen sowie höhere allgemeine Zuweisungen des Landes an die Kommunen. Ohne dies gehe die kommunale Selbstverwaltung in der Region vor die Hunde.
Wenige Bürgermeister aus dem Verteilungsgebiet des Niederschlesische Kuriers unterschrieben das Papier nicht. Die Redaktion fragte so exemplarisch beim Hohendubrauer Bürgermeister Henrik Biele sowie Kreba-Neudorfs Bürgermeister Dirk Naumburger für den Grund ihrer fehlenden Unterschrift nach. Beide versicherten, dass hierfür lediglich die Nichtteilnahme an der SSG-Tagung ursächlich sei. Es bestehe keinerlei Zweifel daran, dass das Dokument absolut notwendig sei und von allen mitgetragen werde.
Die Redaktion dokumentiert folgend den Text des Brandbriefes ungekürzt:
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident,
sehr geehrter Herr Staatsminister der Finanzen,
sehr geehrte Abgeordnete des Sächsischen Landtages,
die Lage fast aller kommunalen Haushalte in Sachsen hat sich deutlich verschlechtert. Bereits das Jahr 2022 haben Sachsens Kommunen mit einem Defizit von 342 Millionen Euro – dem höchsten seit Anfang der 2000er Jahre – abgeschlossen. Verantwortlich sind die stark gestiegenen Aufwendungen besonders für Personal, Energie und bei Landkreisen und Kreisfreien Städten insbesondere die Sozialausgaben.
Gleichzeitig steht unsere Gesellschaft aufgrund zahlreicher aktueller wie noch nicht bewältigter Krisen, der jüngsten energiepolitischen Entscheidungen der Bundesregierung sowie der derzeitigen illegalen Zuwanderung vor immensen Herausforderungen. Die Verunsicherung unserer gemeinsamen Einwohnerinnen und Einwohner ist auf einem Höchststand. Vertrauen in die Entscheidungen politisch Verantwortlicher – auch auf kommunaler Ebene – und das Handeln staatlicher Institutionen schwindet zusehends und ist dauerhaft gefährdet. Ein rasantes Anwachsen antidemokratischer Tendenzen ist landesweit zu beobachten.
Wir sind darüber in großer Sorge.
Leider müssen wir exemplarisch die Entwicklung im Landkreis Görlitz benennen. Unser Landkreis steht klar belegbar unmittelbar vor der Zahlungsunfähigkeit. Dies ist erkennbar nicht auf Missmanagement vor Ort, sondern auf seit Jahren bekannte strukturelle Defizite, chronische Unterfinanzierung und unzureichende Anwendung des Konnexitätsprinzips zurückzuführen. Aus diesem und keinem anderen Grund hat der Görlitzer Kreistag im Jahr 2021 EINSTIMMIG beschlossen, gegen das Sächsische Finanzausgleichsgesetz und die unzureichende finanzielle Ausstattung durch den Freistaat zu klagen. Die Gründe für die Klage haben sich nicht in Luft aufgelöst – im Gegenteil. Die Lage hat sich extrem zugespitzt: Kurzfristig wirkende Bedarfszuweisungen werden an der als dramatisch zu bezeichnenden Haushaltsschieflage nichts grundsätzlich ändern. Die nunmehr in diesem Zusammenhang seitens des Freistaats geforderte vollständige Umsetzung des vom Kreistag bislang abgelehnten Haushaltsstrukturkonzeptes beraubt den Landkreis Görlitz auch der letzten Mittel zur Absicherung der für die Standortqualität und das Vertrauen unserer Einwohnerinnen und Einwohner so wichtigen freiwilligen Aufgaben. Und das OHNE dabei erkennbar und nachhaltig etwas an der Situation zu verbessern.
Die Entwicklung des Kreisumlagesatzes im Landkreis Görlitz, der seit 2010 von 28 auf 36 Prozent gestiegen ist, verlagert das Problem zunehmend auf unsere Städte und Gemeinden. Die ihrerseits ebenfalls mit Personal- und Energiekostensteigerungen, Arbeitskräftemangel und überbordender Bürokratie zu kämpfen haben. Gleichzeitig stagnieren die Steuereinnahmen bei ca. zwei Dritteln des gesamtdeutschen Niveaus. Ein Viertel der kreisangehörigen Kommunen im Landkreis Görlitz hat noch immer keinen genehmigten Haushalt für das zu Ende gehende Jahr 2023. Neun unserer Städte und Gemeinden befinden sich in Haushaltskonsolidierung, weiteren steht dieser schwere Weg bevor.
Zusätzlich zu den Konsolidierungsmaßnahmen, die die kreisangehörigen Städte und Gemeinden und ihre Einwohner in den zurückliegenden Jahren einiges an Lebensqualität gekostet haben, stehen weitere schmerzliche Einschnitte unweigerlich bevor. Längst nicht mehr nur im freiwilligen Bereich. Die Anstrengungen zur Meisterung des aktuellen Strukturwandels werden geradezu konterkariert. Statt die weichen Standortfaktoren zu stärken, wie es das „Strukturstärkungsgesetz Kohleregionen“ vorsieht und ermöglicht, droht ein weiterer Aderlass zu Lasten der Attraktivität der gesamten Region. Der damit noch weiter fortschreitende Vertrauens- und Kontrollverlust beeinträchtigt den gesellschaftlichen Zusammenhalt unserer Region massiv.
Mit der Folge, dass sich mehr und mehr Bürgerinnen und Bürger überfordert und verständnislos abwenden, demokratische Prozesse anzweifeln, Meinungsfreiheit negieren und humanitäre Werte zusehends in Frage stellen. Die schwindende Finanzkraft in öffentlichen wie privaten Haushalten, der stetig anwachsende Sanierungsstau oder gar die Schließung öffentlicher Infrastrukturen tragen nicht zum Vertrauen in demokratische Entscheidungen, in staatliches und kommunales Handeln bei. Der dies begleitende stetige offene Dauerwahlkampf in den Regierungskoalitionen auf Bundes- und Landesebene führt eben nicht zu einer Schärfung von Parteienprofilen, sondern zur zusätzlichen Erosion der politischen Mitte hin zu radikalen antidemokratischen und antieuropäischen Positionen.
Wir fordern daher eine rasche und deutliche strukturelle Stärkung der kommunalen Finanzkraft und Berücksichtigung unserer knappen personellen Ressourcen.
Dem steht die aktuelle Bundes- und Landespolitik bislang offenbar entgegen, denn sie neigt nach wie vor dazu, uns Kommunen noch mehr kostenträchtige wie ressourcenverschlingende Aufgaben zu übertragen: die permanente Erhöhung sämtlicher Standards – das Übermaß an stetig wachsenden Schutz- und Sicherheitsanforderungen verteuert nicht nur jede Baumaßnahme, sondern lähmt Entscheidungs- und Umsetzungsprozesse, Aufgaben wie die kommunale Wärmeplanung werden ohne Rücksicht auf vorhandene Ressourcen und adäquate Finanzausstattung gesetzlich übertragen. Bewährte Förderinstrumente haben in den letzten Jahren zusätzliche bürokratische Hürden und empfindliche Budgetkürzungen erfahren, dagegen entstehen immer neue aufmerksamkeitsheischende Wettbewerbe verschiedener Ministerien.
Wir brauchen aber:
• eine der Tarifentwicklung angepasste Dynamisierung der Landeszuschüsse für den Kitabereich – üblicherweise in fast jeder Kommune eine der größten Ausgabenpositionen
• die konsequente Entbürokratisierung wichtiger Förderinstrumente wie z.B. LEADER, EFRE und GRW Infra
• einen starken sächsischen Einfluss auf Gesetzgebungsverfahren im Bund und der EU, gedacht aus der Perspektive der Ausführenden – der Kommunen
• eine Verbesserung der Einnahmesituation – durch höhere Anteile der Städte und Gemeinden am Steueraufkommen sowie höhere allgemeine Zuweisungen des Landes an die Kommunen.
Wir müssen zurück zur im Grundgesetz verankerten kommunalen Selbstverwaltung! Sie ist nur dann gewährleistet, wenn auch die im nächsten Jahr zu wählenden Gemeinde-, Stadt- und Kreisräte noch Gestaltungs- und Entscheidungsspielräume in ihren Kommunen erkennen können.
So ginge sächsisch!
Kommentar aus dem Niederschlesischen Kurier vom 11. November 2024:
Die Menschen der Region sind NICHT ’verunsichert’, sondern riechen die Zusammenhänge
Die Bürgermeister im Kreis haben Courage bewiesen und Dresden in finanziellen Nöten ein Stoppschild vor die Nase gestellt. Das verdient Anerkennung.
Doch ich frage mich, wieso die finanzpolitische Dramatik nicht für sich alleine stehen darf, sondern mit einer „Verunsicherung“ im Volk abgepuffert werden muss. Zahlreiche Menschen, darunter viele sehr kluge Köpfe und kein Pöbel, fühlen sich keinesfalls „verunsichert“, sondern mit vielen Worten nur „verschaukelt“. Das „schwindende Vertrauen in die Entscheidungen politisch Verantwortlicher“ ist in Wirklichkeit ein Ohnmachtsgefühl, dass Probleme – und wohlgemerkt schon lange keine banalen ’Herausforderungen’ mehr! – weiter kleingeredet und nur plakativ angefasst werden. Und so bin ich vor allem verärgert, dass Dresden in einem Abschnitt des Papiers scheinbar nur unter der Prämisse die ganze Warnung verkauft wird, dass „ein rasantes Anwachsen antidemokratischer Tendenzen (...) zu beobachten“ sei. Im eigentlichen Wortsinn war antidemokratisch doch einmal die Missachtung des Willens des Souveräns. Es in der Angst von Entscheidungsträgern zum Triggerword zu machen, noch geschlossenere Reihen anzumahnen, nährt nur das, was die Autoren verharmlosend „Verunsicherung“ nennen. Musste das sein?
Till Scholtz-Knobloch