Ein letzter Gruß aus dem Ständehaus
Dr. Ernst Kretzschmar bei der Langen Nacht des Reisens in der Rolle als Chrístoph Lüders. Foto: Görlitzer Sammlungen
Görlitz. Durch das Projekt „Wandern durch den Garten der Geschichte“, kannte Oliver Rettig Dr. Ernst Kretzschmar. Sie saßen mit Fabian „Bone“ Bonig und Robin Adam im „Bone-Haus“ am Obermarkt. Und obwohl Oliver Rettig keine wissenschaftlichen Meriten vorzuweisen hatte, schloss ihn Ernst Kretzschmar – offen gegenüber allen, die Spaß an der Geschichte haben – ins Herz.
Je mehr der Stadthistoriker sich zurückzog, umso häufiger besuchte Oliver Rettig ihn. „Wir beide haben uns als überzeugte Preußen auf einer Wellenlänge gesehen, es war einfach angenehm, bei Besuchen mit ihm immer mal wieder gedanklich durch die Geschichte zu spazieren“, so Oliver Rettig, der im Seniorenheim im Görlitzer Ständehaus das letzte Foto mit Ernst Kretzschmar geschossen hat. Dieses liegt der Redaktion vor. Nach einem zweiten Oberschenkelhalsbruch kam der Stadthistoriker aus dem Klinikum dorthin und spürte wohl, dass er den Rollstuhl nicht mehr verlassen und die eigene Wohnung nicht wiedersehen wird. „Ich bin dankbar, dass ich ihn dort noch einmal besuchen konnte, ehe die Coronaregeln dies nicht mehr erlaubten“, sagt Rettig, der als persönliches Geschenk nun eine Münze als Andenken an Ernst Kretschmar ganz besonders in Ehren hält.
Ernst Kretzschmar verstarb am 4. Dezember 87-jährig. Geboren in Meseritz (polnisch: Miedzyrzecz) im heute polnischen Ost-Brandenburg kam er an die Neiße, „da seine Großmutter hier Anlaufpunkt des Heimatvertriebenen war. Er konnte sich über die gemeinsame preußische Geschichte Brandenburgs und Schlesiens mit Görlitz gut anfreunden“, stellt Oliver Rettig fest.
Nach dem Abitur und dem Lehrerstudium an der Pädagogischen Hochschule Potsdam war Ernst Kretzschmar zunächst als Lehrer an der Erweiterten Oberschule in Görlitz, heute Joliot-Curie-Gymnasium, tätig. Hier entstand auch seine Promotion zur Geschichte der Erziehung, er verteidigte seine Schrift mit Summa cum Laude, der bestmöglichen Note. Seine Forschungsarbeit mündete in die Veröffentlichung des Heftes „450 Jahre höhere Schulbildung in Görlitz“.
1974 wechselte er in die Städtischen Kunstsammlungen, wo er bis 1995 als wissenschaftlicher Mitarbeiter eine ganz neue Seite des Museums entwickelte, das bis dahin eher von den kunsthandwerklichen und künstlerischen Sammlungen geprägt war. Er begann stadt- und alltagsgeschichtliche Dinge, Fotografien und Postkarten von Görlitz zusammenzutragen und diese in Ausstellungen wie „Zwischen Biedermeier und Märzrevolution“ oder „Unter dem Hakenkreuz“ zu zeigen. Gleichzeitig entstanden zu einzelnen Perioden der Görlitzer Stadtgeschichte Bildhefte.
Die Wiederentdeckung des Görlitzer Künstlers Johannes Wüsten als Maler und Schriftsteller führte zur Einrichtung einer gleichnamigen Museumsabteilung. Er knüpfte Kontakte zur Künstlerfamilie, die vom Museum fortgeführt werden. Als es in der DDR möglich wurde, war er einer der ersten, der die Forschung zur jüdischen Geschichte von Görlitz gemeinsam mit dem damaligen Ratsarchivar Peter Wenzel förderte.
Besondere Leidenschaft widmete er dem Jugendklub „Johannes Wüsten“. Mit den Theateraufführungen von Wüstens „Verrätergasse“ 1977 zu den Museumstagen der Arbeiterjugend zeigte er sein Talent zu Regie und Schauspiel. Vor allem mit der langjährigen Museumspädagogin Ingrid Rosin bildete er ein kongeniales Paar – Otto und Frieda, das Türmerehepaar. In den 90er Jahren wurden die Veranstaltungsreihen Seniorentreff und Heimatgeschichtliches Wochenende am Museum begründet. Einmal monatlich standen Führungen, Vorträge, aber auch Kulturgeschichtliche Spaziergänge auf dem Plan. Ernst Kretzschmar war es wichtig, nicht nur Geschichte zu vermitteln, sondern Heimatliebe zu fördern. Mit seiner Tasche über der Schulter, in der ein Diaprojektor und eine große Kiste mit Bildern verstaut waren, zog er durch die Stadt zum Blindenverband, Einwohnergemeinschaften, Altenheimen oder Kirchenverbänden.
In den letzten Jahren beteiligte sich Kretzschmar an Görlitzer Theaterspektakeln wie „Der Gottesacker blüht“ oder dem nächtlichen Sagenrundgang. Unvergessen wird er als Herr von Schachmann zu den Königshainer Heimatfesten bleiben und natürlich als wichtigster Autor in den Stadtbildheften.
Till Scholtz-Knobloch/GS