Ein vertrauter Klang ist zurück in Görlitz
Pastor Dr. Matthias Paul erläuterte die Übertragung des ersten Geläuts und wartet auf den großen Moment des Anschwingens – die Presse harrte der richtigen Aufnahme... Foto: Till Scholtz-Knobloch
In der Görlitzer Peterskirche ist die Rekonstruktion des Glockenstuhles im Nordturm abgeschlossen; am Pfingstsonntag erklang nach 30 Jahren damit nun wieder die Betglocke. Die Aufmerksamkeit richtete sich auf eine komplexe Glockengeschichte.
Görlitz. Karfreitag 1993 war die Glocke zur Sterbestunde Christi um 15.00 Uhr letztmalig zu hören. Zum großen Anlass hatte auch Bischof Dr. Christian Stäblein den Weg nach Görlitz gefunden und die Pfingstsonntagpredigt gehalten. Zugleich harrte die Gemeinde jedoch kurz vor 12.00 Uhr, zur Westseite des Sakralbaus vor die Orgelempore zu ziehen, wo die ’Glockenbegrüßung’ festlich begangen wurde.
Damit die große Betglocke ihren Dienst wieder aufnehmen konnte, waren viele vorbereitende Schritte nötig und nicht zuletzt die Finanzierungsfrage zu lösen. Ein schwieriges Unterfangen, denn Corona und Preissteigerungen streuten auch Sand ins Getriebe.
Doch der Bauausschuss der Evangelischen Innenstadtgemeinde und der Gemeindekirchenrat hielten beharrlich am Vorhaben fest. So habe man „mit Dankbarkeit und Freude“ im vergangenen Herbst damit beginnen können, den historischen Glockenstuhl zu sanieren und zu rekonstruieren. Sichtbar wurde dies den Görlitzern, als am 20. März diesen Jahres ein neues Joch und ein neuer Klöppel mittels Kran in den Nordturm der Peterskirche verbracht wurden.
Technische Vorbereitungen für den Pfingstsonntag lagen bei Gunther Ende vom Gemeindekirchenrat, der als „Unterhaltungselektronik“-Experte die Verantwortung für die Liveübertragung vom Anschlagen der ersten Klänge auf eine Videoleinwand im Kirchenschiff übernommen hatte. „Von den Lichtverhältnissen war klar, dass eine solche Übertragung nach draußen zu schlecht sichtbar gewesen wäre, also haben wir die dunkelste Stelle unter der Orgelempore genommen, wo der Beamer zum Einsatz kam. Der Höhenunterschied zur Glocke im Turm war etwa 40 Meter und für die kürzeste Verbindung braucht man ja auch ein paar Meter mehr“, berichtet er der Redaktion in seinem Geschäft in der Hospitalstraße. Er habe glücklicherweise von einem größerem Auftrag des Theaters noch ein entsprechend langes Kabel gehabt, aber „drei Meter weniger hätten gerade noch so geklappt – es war also durchaus eng“.
Nach der Einweihung führte Christian Beck (Glocken- und Turmuhren) aus dem thüringischen Kölleda zur Glocke. Das blieb wegen der Enge jedoch jeweils kleinen Gruppen von zehn Teilnehmern vorbehalten.
Kurz vor 12.00 Uhr stand die große Betglocke als Star des nach dem Pfingstgottesdienst natürlich erst einmal im Mittelpunkt der Ausführungen von Pfarrer Dr. Matthias Paul vor der Leinwand. Er berichtete: „1472 wurde für die Peterskirche eine ’Susanna’ gegossen. Sie sollte inmitten von Kriegswirren rund um die böhmische Krone zu einer Friedensglocke werden. Sie wog 108 Zentner, also circa fünf Tonnen und zählte lange Zeit zu einem Glockenwerk mit fünf Glocken: Maria F, die Susanna A, die Salve-Glocke C, die Vesperglocke f und das Schlussglöckchen c. Die Susanna musste jedoch 1598 umgegossen werden und wog darauf 114 Zentner. Als städtische Glocke trug sie das Görlitzer Stadtwappen. Die Inschriften boten die Namen und Funktionen der Stadtväter auf – so etwa des Bürgermeisters Bartholomäus Scultetus (gestorben 1614) und des Stadtrates Sebastian Hoffmann (gestorben 1605) – gewiss keine Leichtgewichte in der Görlitzer Geschichte“, so Paul.
Nachdenklich stimme jedenfalls die Inschrift über dem Gemerkzeichen des Scultetus, die Gesetz(gebung) und Gewissensbindung des Einzelnen eng aufeinander bezieht: „Frustra leges praetereunt, quem non absolvit conscientia.“
Der Merkspruch für obrigkeitliches und politisches Handeln aus alter Zeit – auf gut deutsch: „Sie erlassen sinnlose Gesetze, die das Gewissen nicht auflöst“, brauchen aber nicht allein historisch gedeutet werden, fanden zu allen Zeiten Anknüpfungspunkte und werfen so auch ein Schlaglicht in unsere Tage.
Doch Matthias Paul schlägt einen solchen Bogen nicht und berichtet weiter: „Diese ’zweite Susanna’ wurde Opfer des Stadtbrandes von 1691. 1697 erfolgte der Guss einer neuen ’Betglocke’“, die man spätestens ab der Mitte des 19. Jahrhunderts ’große Betglocke’ genannt habe. „Für den Neuguss hatte der Glockengießer Johann Hannibal Brorse das Metall der zweiten Susanna verwendet. Sie trug wieder das Stadtwappen und führte die Namen des Bürgermeisters Johann Kießling und des Gerichtsschöppens Christian Wiedemann sowie eine kleine Glockengeschichte auf. Ihr Ton war fis. Nach einem erneuten Umguss 1737 hielt sie den Ton F.“
Heute sind die Betglocke und die ebenfalls erhalten gebliebene Tuchmacherglocke von 1716/37 die beiden verbliebenen Bronzeglocken der Peterskirche. Im Sommer 1917 mussten nämlich drei Glocken für Kriegszwecke abgegeben werden, darunter die Große Glocke und die Primariatsglocke, die sogenannte kleine Betglocke. Erstere galt lange Zeit als die viertgrößte Glocke in Deutschland.
Erneut sollte ein Weltkrieg Rufe nach Metallen für Kanonen mit sich bringen. Matthias Paul klärt auf: „1940 forderte man schließlich die Tuchmacherglocke. Sie wurde jedoch nicht eingeschmolzen, sondern 1948 in Hamburg wiederentdeckt und kehrte 1949 nach Görlitz zurück. Mehr als ein Jahrzehnt nach Kriegsende erfolgte 1957 der Einbau von zwei Glocken aus Eisenhartguss – eine Paulus- und eine Petrusglocke (1956). Die Peterskirchengemeinde hatte sie bei der Firma Schilling & Lattermann in Auftrag gegeben. Sie wurden in den aus Stahl errichteten Glockenstuhl an gekröpften Jochen angebracht. Die Sehnsucht nach Frieden schlug sich in der Inschrift der Paulusglocke nieder: ’Seid fleissig zu halten die Einigkeit durch das Band des Friedens.’ In den neuen Stuhl verbrachte man auch die Tuchmacherglocke.“
Die große Betglocke sei aber im historischen Glockenstuhl des Nordturmes verblieben. „Dieser aber wurde verändert, zum Beispiel durch ein gekröpftes Joch, während die Glockenanlage mit einem Motor ausgestattet wurde“, so Paul. Diese Eingriffe seien als nötig erachtet worden, „aber aus heutiger Sicht eine Verschlimmbesserung, die sich zu einem unlösbaren Dauerproblem auswuchs. Nur mit Mühen und besonderen Aufwand konnte sie überhaupt geläutet werden – bis zum Karfreitag 1993.“
Laut der Läuteordnung der Peterskirchengemeinde für nunmehr vier Glocken vom 24. Oktober 1957 sei die große Betglocke Weihnachten, am Ende der Christvesper, Ostersonntag um 6.00 Uhr, am Vorabend des Pfingstfestes, zu Sylvester und zu jedem Gottesdienst mit eingeschlossenem Abendmahl erklungen. Und nur sie allein erklang zum Vater Unser – hier mit sieben Hammerschlägen, zu Beerdigungen – während des Weges zum Grabe bei besonderer Bestellung und am Karfreitag zum Vormittagsgottesdienst sowie eben zur Todesstunde Christi.
Auch wenn die Glockenwiederinbetriebnahme den „zweiten Höhepunkt“ neben der Pfingstbotschaft lieferte, konzentrierte sich Bischof Dr. Christian Stäblein in der Predigt zum Fest des Heiligen Geistes auf das Miteinander von Menschen und bekam – unüblich in einer Kirche – zum Ende gar Szenenapplaus, als er zusammenfasste: „Komm Gott, bring uns zur Vernunft!“. Er sprach vom Krieg und der Hilfe untereinander und wiederholte einen Aufruf, etwa einem Nachbarn unter die Arme zu greifen, wenn dieser Longcovid hätte. Diese Fokussierung blieb insofern enttäuschend, da der Bischof damit noch immer den Umfang von Impfopfern übergeht. Noch im März hatte er in seiner B.Z.-Kolumne mitten in Zeiten einer immensen Übersterblichkeit der Nachcoronazeit betont: „Ohne Impfung wäre die Sterblichkeit hoch, säßen wir möglicherweise noch immer in wiederkehrenden Lockdowns.“
Auch an diesem Wochenende steht in der Peterskirche nun wieder ein Höhepunkt an. Nachdem die Schlesischen Musikfeste nicht in der Peterskirche, sondern am 4. Juni, 17.00 Uhr in der Frauenkirche mit einem barocken Kammerkonzert mit Eleni Ioannidou und dem Lausitzer Barockensemble zu Ende gehen, überträgt der MDR den Rundfunkgottesdienst in der Peterskirche mit Generalsuperintendentin Theresa Rinecker an eben diesem 4. Juni, ab 10.00 Uhr. Dr. Matthias Paul betont hierzu: „Besucher des Gottesdienstes mögen bitte bis 9.40 Uhr in der Kirche sein. Um eine gute Übertragung zu ermöglichen, sollen dann die Kirchentüren geschlossen sein. Der Gottesdienst endet um 11.00 Uhr.“ Die Betglocke wird dann vermutlich jedoch keine Rolle spielen, denn „die Betglocke lag ja gleichsam in den Händen des Bischofs.“
Die Generalsuperintendentin werde am 4. Juni etwas zur Region und zum Sprengel Görlitz (mit Cottbus), insbesondere jedoch zur evangelisch-polnischen Gemeinde in Lauban sagen. Denn die Innenstadtgemeinde hat die Kollekte des Gottesdienstes für ebendiese festgelegt“, so Paul.