Eine Nacht, die alles veränderte
Jahrzehntelang hatte Norbert Littig als zweiter Pfarrer der evangelischen Kirchgemeinde Großröhrsdorf gedient.
Neben dem bereits erwähnten Parament – einem in der Liturgie verwendeten Tuch – kamen weitere Bruchstücke zum Vorschein.
Großröhrsdorf. Wohl jeder Großröhrsdorfer wird sich noch daran erinnern, wie er den Abend des 3. August 2023 verbracht hat – den Abend vor jener Nacht, die in der Stadt an der Röder alles veränderte. Am Morgen danach existierte die Stadtkirche nicht mehr. Ein Raub der Flammen, die alles vernichteten. Tatsächlich alles? Norbert Littig zeigt auf eine Rolle bestickten Stoffes, an den Rändern angekohlt, aber ansonsten noch gut erkennbar. „Sie müssen sich vorstellen: Sie rollen ab, eine Schicht nach der Anderen, und ganz innen – außen herum ist alles schwarz und verbrannt – ganz innen finden Sie ein Parament, mit farbiger Seide aufgestickt: Gott ist die Liebe!“
Wohl jeder, ob religiös oder nicht religiös, kann nachempfinden, was Norbert Littig in jenem Moment kurz vor Weihnachten empfunden hat. Jahrzehntelang hatte er als zweiter Pfarrer der evangelischen Kirchgemeinde Großröhrsdorf gedient, kannte das Gotteshaus wie kein anderer, konnte jeden Stein und jeden Nagel beim Namen nennen – insbesondere nach der umfassenden Sanierung vor wenigen Jahren: „Ich durfte aus Sicht der Kirchgemeinde diesen Bauvorgang von 2012 bis 2018 begleiten, war bei jeder Bauberatung dabei. Dadurch hat man natürlich noch eine andere Beziehung zu so einem Kirchgebäude, als wenn man nur ab und zu einen Gottesdienst abhält oder ein Konzert arrangiert. Mir war diese Kirche wirklich vertraut.“
Natürlich weiß auch Norbert Littig noch, was er am Abend des 3. August 2023 gemacht hat; denn wie fast immer war er auch an jenem Tag im Dienste der Kirchgemeinde unterwegs gewesen: „Ich bin mit dem Entwurf eines Flyers über die Stadtkirche zur Stadtdruckerei gefahren und habe Herrn Honomichl gefragt, ob er das drucken kann. ...“
Er hat gesagt, ich soll den Entwurf am nächsten Tag im PDF-Format zu ihm bringen.“ Keiner der beiden Männer ahnte zu diesem Zeitpunkt, dass alle in dem Flyer abgebildeten Gegenstände und Kunstschätze am nächsten Tag vernichtet sein würden. Als Norbert Littig von der Tragödie erfuhr, stellte er sich als erstes die Frage: Habe ich Schuld daran, dass diese Kirche abgebrannt ist? Habe ich vergessen, bei der letzten Führung die Altarkerzen auszumachen? Es wäre nicht die erste Kirche gewesen, die wegen brennender Kerzen in Asche fällt. „Doch meine Frau konnte mich entlasten, indem sie darauf hinwies, dass bei Führungen keine Kerzen angezündet werden, sondern nur bei Gottsdiensten. Und der Friedensgottesdienst lag bereits eine Woche zurück.“ Nach Wochen des Schocks und der Trauer stellte sich Norbert Littig einer schweren, aber auch wichtigen Aufgabe: „Der Kirchenvorstand hat mich gebeten, bei der Sichtung des Brandschuttes mitzuhelfen und zu schauen, ob noch Fragmente von Kunstgut erhalten sind.“ Eine nicht nur körperlich, sondern auch seelisch belastende Arbeit, deren Ergebnisse zurzeit in einer Sonderausstellung im Technischen Museum Großröhrsdorf zu sehen sind. Seine genaue Kenntnis der Kirche half Norbert Littig dabei. Unterstützung erhielt er dabei von hauptsächlich syrischen Arbeitern der Fachfirma Belfor sowie durch die Restauratoren Christine Kelm, Veit Müller, Maik Hennig und Tania Korntheuer-Wardak. Neben dem bereits erwähnten Parament – einem in der Liturgie verwendeten Tuch – kamen weitere Bruchstücke zum Vorschein: Beispielsweise ein Totenschädel und eine Flammenvase vom einst prachtvollen Barockaltar. Vom Taufstein blieben lediglich das Zinkkreuz sowie ein Teil der Taufschale. In einer Wasserlache wurde geschmolzenes Zinn von den Orgelpfeifen gefunden, der Rest ist verdampft. Nur der eiserne Lampenschirm über dem Spieltisch überdauerte. Unbeschädigt blieb die Sonnenuhr. Norbert Littig selbst brauchte Zeit, um Schock und Schmerz zu überwinden. Eine Begebenheit etwas mehr als eine Woche nach dem Brand half ihm dabei: „Am 12. August sah ich über dem Stumpf des Kirchturms einen doppelten Regenbogen, ein ganz starkes Zeichen, dass das Leben nach der furchtbaren Katastrophe weitergeht, ein Zeichen der Ermutigung.“ Johannes Hartmann vom Kirchenvorstand gelang es, dieses Zeichen des Himmels mit der Kamera einzufangen. Und auch das Leben der Großröhrsdorfer Kirchgemeinde geht weiter. Schon gibt es Pläne für einen Neu- oder Wiederaufbau der Stadtkirche. Doch das ist schon wieder eine andere Geschichte.
Service: Die Ausstellung „Was bleibt, sind Bilder und Erinnerungen“ ist noch bis Mai 2025 im Technischen Museum der Bandweberei zu besichtigen. In ihr können auch die Ergebnisse eines Schülerwettbewerbs des Ferdinand-Sauerbruch-Gymnasiums Großröhrsdorf zu einem Relief der Hofrätin Christiane Sophie Nicolai, einer wichtigen Mäzenin der Stadtkirche, sowie Fotografien von Johannes Hartmann und Tom Stenker besichtigt werden.