Frei von Mobilisierungskampagnen?
„Ich hab’s vorausgeahnt“. Ex-OB Joachim Paulick in seinem Immobilienbüro in der Kunnerwitzer Straße. Foto: Till Scholtz-Knobloch
Görlitz. Noch ehe der NSK letzter Woche mit dem Aufmacherthema Bürgerschaftliche Beteiligung und Wilhelmsplatz die ersten Leser am Briefkasten erreichte, reagierte die Stadt auf die Kritik zum fragwürdigen Wahlprozedere im Beteiligungsgebiet Innenstadt Ost. Zum einen wurde bei den Wahlen im Beteiligungsraum Klingewalde/Historische Altstadt/Nikolaivorstadt am 5. Februar nun auf einmal ein Abstimmungssystem angewandt, bei dem Bewerber eine absolute Stimmenmehrheit vorweisen mussten, womit nur noch fünf Bewerber auch gewählt wurden. Daneben ging noch vor Erscheinen des NSK der Vorwoche eine Pressemitteilung vom Oberbürgermeister raus, in der – noch alle Optionen offen lassend – Octavian Ursu verlautbart: „Nach den bisher durchgeführten Bürgerversammlungen mit Bürgerratswahlen zeichnet sich ab, dass sich eine große Zahl von Bürgern beteiligen und in die Entwicklung der Stadt Görlitz einbringen möchte. Dafür möchte ich mich bei allen, die sich engagieren, als Oberbürgermeister herzlich bedanken. Das ist eine große Bereicherung für unsere Stadt und die Gesellschaft (...) Daher halte ich eine Erweiterung und Ergänzung der dazugehörigen Satzung für geboten. Die Verwaltung wird dem Stadtrat in den kommenden Wochen konkrete Vorschläge dazu zum Beschluss vorlegen.“
Netzdiskussionen und Leserbriefe zur NSK-Titelgeschichte reichten vom Urteil „1 1/2 unnütz bedruckte Seiten“ bis zur uneingeschränkten Zustimmung. Conrad W. Dege, ehemaliger Bürgerrat Innenstdt-Ost, bemängelte jedoch: „In der Innenstadt wurde durch uns Bürgerräte (.) das Instrumentarium der aktiven Mithilfe bei den Projekten ins Leben gerufen. Darüber hinaus ist der Bürgerrat der kurze Draht zur Verwaltung und daher eher der Bote der Nachricht als der Akteur. Insofern ist die Adresse des Protestes vom Wilhelmsplatz und die dazugehörige Berichterstattung fehlgeleitet. Problematisch an der Bürgerratswahl ist in der Tat das Zustandekommen des Mandats aus der Wahl der Anwesenden in der Wahlsitzung. Allerdings seien die Kritiker der diesjährigen Wahl erinnert, dass zu der ersten öffentlichen Sitzung des vorangegangen Bürgerrats eben diese Kritiker sich auch verabredet hatten. Wer jedoch Politik machen möchte, der wende sich an seinen Stadtratsabgeordneten.“
Ex-Oberbürgermeister Joachim Paulick sieht sich indes in einstigen Ahnungen bestätigt. Er teilte dem Niederschlesischen Kurier nach der Berichterstattung mit: „Es ist genau das eingetreten, worauf ich in der 15. öffentlichen Sitzung des Stadtrates am 25. Juni 2015 im Zuge der Beratung der ’Satzung zur bürgerschaftlichen Beteiligung’ hingewiesen habe. Es gibt weder eine Erfassung und Überprüfung der Wahlberechtigten, noch findet die Wahl nach den Grundsätzen einer allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahl statt. Der Missbrauch war programmiert und vielleicht sogar bewusst eingebaut, denn die Satzung ist ja von dem damaligen Professor an der Hochschule Zittau-Görlitz (Joachim Schulze) und seinen Sozialwesen-Studenten entwickelt worden, weswegen ihn auch die Rechtsaufsicht der Landkreises bei seiner Teilnahme an der ersten Beschlussfassung für befangen erklärte. Ich tippe, die ’Okkupanten’ der Bürgerversammlung stammten auch aus diesem Labor und werden das Experiment in einer Masterarbeit auswerten, könnte ich mir vorstellen.“
In der Stadtratsdiskussion vom 25. Juni 2015 wurden verschiedene Städte angesprochen, die damals bereits eine Bürgerbeteiligung betrieben – so auch das kurpfälzische Weinheim. Zusammengesetzt ist ein Bürgerrat dort nämlich aus 15 bis maximal 25 ausgelosten Bewohnern der Stadt ab 16 Jahren. Vielleicht die eleganteste Form, Bürgerwillen sichtbar werden zu lassen, ohne dass diese zum Spielball von Mobilisierungskampagnen werden können.