Ist die Grenze nicht mehr DAS Görlitzer Kriegstrauma?
Keine Frage: Eine offene Grenzstadt hat heute ihren Reiz. Doch kann man die Teilung der Stadt und Vertreibung zum Kriegsende als zentrales Trauma einfach ausblenden? Foto: Matthias Wehnert
Als Europastadt genießt Görlitz ein interessantes Profil. Dass dieses jedoch erst aus der Teilung der Stadt und der Vertreibung der Einwohner am Ostufer 1945 geboren wurde scheint vergessen. Oder wie ist eine von der Stadt propagierte Gedenkwoche zu 77 Jahren Kriegsende zu verstehen?
Görlitz. „In Gedenken an das Ende des Zweiten Weltkrieges“ verbreitet die Stadt Görlitz das Programm für „Deutsch-Polnische Erinnerungsdiskurse“, die an den 8. Mai 1945 und das Kriegsende erinnern sollen. Ausgerichtet würden diese von einem „breiten Kooperationsnetzwerk der Europastadt“ im April und Mai mit Ausstellungen, Führungen sowie Workshops. „Im Fokus dieser Veranstaltungsformate stehen dabei die Aufarbeitung und das Sichtbarmachen persönlicher Geschichten und Tragödien der Opfer, der Überlebenden sowie deren Angehörigen“, heißt es zum Programm, das sich online unter www.goerlitz.de/gedenkwochen findet.
Der Niederschlesische Kurier zählte hierbei neun Veranstaltungen mit vorrangigem Bezug zu jüdischen Schicksalen, sieben Veranstaltungen, in denen das Stalag im Zentrum steht – einschließlich des Themas Ghettoaufstand in Warschau 1943, zu dem es auch einen Film im Camillo gibt – sowie die Wanderausstellung #StolenMemory mit Erinnerungsstücken von KZ-Häftlingen, der auch ein VHS-Vortrag gewidmet ist. Alles für sich wichtige Bausteine für eine historische Bildung, die zunehmen jedoch die Bewältigung von Trauer breiter Bevölkerungsschichten ausspart. Auf Nachfrage zu den beiden Themenschwerpunkten sowie dem völligen Ausblenden der Teilung der Stadt und der Vertreibung der Deutschen vom Ostufer möchte die Stadt keine Themenverengung einräumen. „Die Veranstaltungen unterscheiden sich wie im Programm ersichtlich inhaltlich voneinander. Es gibt keinen thematischen Schwerpunkt“, heißt es trotzig aus dem Rathaus, das auf die Frage nach Auswahl und Legitimation antwortet: „Die Stadt Görlitz hat die Kooperationspartner nicht bestimmt oder festgelegt. Vereine und Institutionen sind in Eigeninitiative auf die Stadt zugekommen.“ Doch wäre zur Abbildung einer vollständigen Breite an Erfahrungen nicht der Stadtrat einzuschalten, der nicht involviert war?'
Der NSK fragte den aus Görlitz stammenden Vorsitzenden der Landsmannschaft Schlesien, Stephan Rauhut, ob er um Beiträge gebeten wurde. Rauhut verneinte von einer Delegationsreise nach Polen im Kontext der Ukrainehilfe.
„Dass es ein Programm zum Gedenken an das Ende des 2. Weltkrieges in Görlitz gibt, welches auf einer offiziellen Seite der Stadt veröffentlicht wird, in dem die Vertreibung von fast 4 Millionen deutschen Schlesiern oder insgesamt rund 14 Millionen Deutschen überhaupt keine Erwähnung findet, obwohl besonders Görlitz durch seine Lage und durch die faktische Teilung der Stadt 1945 in besonderer Weise damit in Berührung gekommen ist, macht mich fassungslos“, bekundet Rauhut. Die Nichtinvolvierung der Landsmannschaft erscheint umso unverständlicher, zumal diese in Görlitz mit Unterstützung des Landes ein Büro plant. Rauhut berichtet: „Ich war im letzten November zur jüdischen Gedenkwoche in Görlitz eingeladen. Vielen Nachkommen der jüdischen Familien aus Görlitz, die in ihren Erzählungen von der Familiengeschichte in Görlitz und Schlesien berichteten, war wichtig den schlesischen Bezug ihrer Vergangenheit zu erwähnen.“
Doch gehört es eventuell zu einem Komplex, eigenes Leid oft nur noch im Kontext von Holocaust und NS-Verfolgung zu reflektieren? Sollte das Trauma Vertreibung nach 77 Jahren nicht auch unverkrampft Teil eines Ganzen sein? Sonst droht wohl auch hier ’Stolen Memory’