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Knappenrode soll über Flucht und Vertreibung berichten

Knappenrode soll über Flucht und Vertreibung berichten

Der Landesvater wird von Sorbischen Trachtenmädchen vor dem „Transferraum Heimat“ (links) begrüßt. Foto: Till Scholtz-Knobloch

Knappenrode. Im Zeichen des 2026 anstehenden 35. Jubiläums der Unterzeichnung des deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrags streben Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer und sein brandenburgischer Amtskollege Dietmar Woidke nach einer Kabinettsitzung am 30. April in Boxberg mehr institutionelle Förderung von Jugend- und Begegnungsinitiativen an.

Damit dürfte Kretschmer insbesondere auch auf den „Transferraum Heimat“ abgezielt haben, der vom CDU-Parteifreund Frank Hirche nur 20 Kilometer westlich von Boxberg in Knappenrode geführt wird und dessen nun erweiterte Räumlichkeiten am 8. Juni abschließend eingeweiht wurden. Der Standort ist durch die Grenznähe zu Polen und die große Ballung von Vertriebenen in der Oberlausitz sicher ideal. In Knappenrode hob Kretschmer, dessen Großeltern aus dem Kreis Sprottau in Schlesien stammen, am 8. Juni so auch hervor, dass eine Studie ergeben habe, dass sich über die Generationen mittlerweile über 90 Prozent der Görlitzer auf Vertriebenebezüge berufen können.

Das Areal in Knappenrode ergänzt das Museumsgelände der riesigen alten Brikettfabrik, die beeindruckend die Geschichte des Lausitzer Reviers und seiner Umstrukturierung dokumentiert und unbedingt einmal Ausflugsziel jedes Lausitzers sein sollte. Genau einen Tag vor den Europa- und Kommunalwahlen waren zahlreiche Busse mit Vertriebenengruppen angereist. Nahezu am Eingang prangte ein riesiges Werbeplakat der CDU, das wohl die These zementieren sollte: Vertriebene haben bislang und sollten auch künftig CDU wählen.

Politisch immerhin geschickter umschrieb dies Michael Kretschmer auch in seiner Festrede. Zum Geschehen waren die beiden Spitzenvertreter der deutschen Minderheit aus Polen – in Oberschlesien – Rafal Bartek sowie Bernard Gaida angereist. Während den Deutschen in Polen über die Jahre nach und nach institutionelle Förderungen aus der Bundesrepublik beschnitten und auf Projektförderungen umgestellt wurde, und auch hier nun in Knappenrode institutionelle Hilfe in Deutschland aufgebaut wird, durfte Rafal Bartek im Festzelt neben dem „Transferraum Heimat“ für den oberschlesischen Bildungsverein „Wunder“ ganze 2.000 Euro im Rahmen des Zukunftserbepreises 2024 aus den Händen des Ministerpräsidenten entgegennehmen.
Der „Transferraum Heimat“ beeindruckt industriearchitektonisch – so ragt aus ihm ein gedeckter Güterwagen der Bauart Oppeln nach außen hervor. Mit diesem weitverbreiteten Reichsbahnwaggon haben Millionen Ostdeutsche ihre Vertreibung in die Sowjetzone und den Westen erlebt. 

Während in Görlitz das Schlesische Museum das Kulturerbe eher durch Schaustücke und für die wissenschaftliche Forschung präsentiert und so auch viele Touristen anzieht, setzt Knappenrode auf den von Woidke und Kretschmer betonten Aspekt der Jugendarbeit. Frank Hirche erläuterte der Redaktion bei der Einweihung, dass auch Auslandsdeutsche problemlos und gefördert zu Begegnungen nach Knappenrode eingeladen sind. Schwierig stelle sich jedoch dar, schon Lehrer aus der Lausitz von der Relevanz der ostdeutschen Kulturarbeit in Sachen Schlesien, Pommern oder Ostpreußen zu überzeugen, damit diese mit ihren Klassen zu Projekten kommen. Ein besonderer Clou sei, dass zum Abschluss von Begegnungen Jugendliche mit einem Rettungsboot der Wilhelm Gustloff über den aus der Tagebaumumstrukturierung geschaffenen Geierswalder See schippern können.

Der durch sowjetische Torpedos verursachte Untergang der Gustloff als Schiff, das Flüchtlinge über die Ostsee rettete, ging als wohl größte Schiffskatastrophe der Weltgeschichte mit geschätzten 9.000 Todesopfern in die Analen ein. Frank Hirche nimmt man die Begeisterung für seine Arbeit ab, doch zwei Ärgernisse konnte wohl auch er nicht verhindern. Der Vertreibung verharmlosende Begriff „Transfer“-Raum geht auf den Vorschlag der polnischen Kuratorin Julita Izabela Zaprucka zurück, die sonst eigentlich Gespür für Feinheiten des Wortes hat und als Museumsdirektorin in Hirschberg im Riesengebirge (Jelenia Góra) auch schon einmal mit Dankesworten in niederschlesischer Mundart überrascht. Neben zahlreichem Interieur, wie man es auch aus vielen Heimatstuben kennt, darf in Knappenrode aber auch das politische Narrativ der Migration fröhliche Urständ feiern und scheint der notwendige Kotau zu sein, damit Politik und Lehrer sich diesen Fragen heute überhaupt zuwenden. Auf einer Bank sitzen zwei Frauenpuppen – eine oberschlesische Trachtlerin und neben ihr eine schwarzafrikanische Migrantin mit Säugling, die den Zuzug heute in eine Beziehungslinie mit Vertreibung setzt. Auf einem Monitor läuft daneben eine Einblendung „Flucht gestern – Flucht heute“. Links ein polnischer Vertreibungsbefehl in deutscher Sprache – rechts ein Flüchtlingsboot heute Marke Eigenbau.

Der durch viele Russen und Ukrainer verstärkte russlanddeutsche Chor aus Leipzig, der Krappitzer Chor aus Oberschlesien und die vielen anwesenden deutschen Vertriebenen freuen sich an diesem 8. Juni, dass die Politik ihre Existenz einmal wahrnimmt und reisen zufrieden ab. Tags darauf im Wahllokal wissen sie nun, wer ihre Stimme bekommen soll.

Till Scholtz-Knobloch / 25.06.2024

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