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Kommt jetzt das Landgericht 2.0?

Kommt jetzt das Landgericht 2.0?

Die Zeit von Schwert und Waage sind schon länger vorbei. Aber sind die geplanten Neuerungen geeignet, um Justitia(Gerechtigkeit) und Veritas (Wahrheit) wieder mehr zu versöhnen? Foto: B. Vogt

Bei der Jahrespressekonferenz des Landgerichts Görlitz samt dessen Außenkammer in Bautzen ging es neben allgemeinen Themen um drei große Änderungen, die nicht von allen begrüßt werden. 

Bautzen.
Sie kommt in großen Schritten: die „E-Akte“. Das bedeutet, dass in Sachsen ab dem 1. Januar 2026 Akten bei der Justiz nur noch in digitaler Form angelegt werden. Bereits jetzt läuft dazu die Umstellung. Ab Mitte April diesen Jahres will das Landgericht Görlitz bereits in der zivilen Gerichtsbarkeit die elektronische Akte eingeführt haben. Elmar Kirchberg, der noch relativ frische Vizepräsident des Landgerichts, bezeichnete diese Neuerung als „größte Veränderung seit der Schreibmaschine“. Damit soll Zeit und Geld eingespart werden und alles soll einfacher werden. Und prinzipiell wird das von den Gesprächspartnern auch nicht geleugnet. 
Es gibt aber schon ein paar Einwände gegen eine allzu große Verklärung der schönen, neuen Technik. „Das ist mega komplex“, betont Reinhard Schade von der Außenkammer Bautzen. Eine besondere Herausforderung stelle dabei die Kommunikation dar. Nicht nur zwischen den jeweiligen Instanzen, die bei der Gerichtsbarkeit eine Rolle spielen, sondern auch technisch zwischen Hersteller und Gericht. Dabei laufen noch mehrere Programme zusammen, was viele Abläufe sehr komplex und damit langwierig mache. 

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Friedrich-Leopold Graf zu Stolberg Stolberg, der Präsident des Landgerichts Görlitz, sieht einige geplante Neuerungen des Justizsystems durchaus kritisch. Foto: Matthias Wehnert

Zwar werde, wenn es technisch alles klappt, die reine Aktenlogistik einfacher werden, zurzeit sei es aber so, dass „wir plötzlich Arbeiten machen, die nicht unser Job sind“, so der Richter. Denn wenn alles elektronisch läuft, muss sich jeder Richter oder Staatsanwalt um seine Akten mehr oder weniger selber kümmern. Früher haben sie diese einfach von der Geschäftsstelle vorgelegt bekommen. Funktioniert etwas nicht oder gibt es anderweitig Probleme, müssen sich nun die Juristen auch noch damit beschäftigen und können sich in dieser Zeit nicht auf die Rechtsprechung konzentrieren. Zwar führe die Technisierung aus Sicht der Dienstherren, also des Freistaates, zu einer Rationalisierung. Faktisch gebe es aber einfach eine Mehrbelastung der Juristen. Eine regelrecht amüsante Wendung nehme die Digitalisierung dabei manchmal im Alltag. 

So würden sich einige, die zum Beispiel nicht erpicht darauf seien, sich Akten über 600 Seiten am Bildschirm durchzulesen, diese einfach ausdrucken. „Die haben dann eine zweite Geschäftsstelle im Büro“, so Schade. Denn die Verarbeitung bleibe immer noch Menschensache.

Ähnlich kontrovers wurde über zwei Gesetzesvorhaben berichtet, die das Bundesjustizministerium unter der aktuell regierenden Koalition auf den Weg gebracht hat. Zum einen sollen Hauptverhandlungen an Landgerichten in Zukunft audiovisuell aufgezeichnet, also gefilmt, werden. „Eine audiovisuelle Dokumentation auf dem heutigen Stand der Technik hält verlässlich fest, was sich in der tatrichterlichen Hauptverhandlung tatsächlich zugetragen hat“ hält zu diesem Thema der Kriminalpolitische Kreis, ein Zusammenschluss von 37 deutschen Strafrechtsprofessoren, in einer Stellungnahme fest. Das Ziel dieser Videomitschnitte ist also, jedes Verfahren analysierbar und nachvollziehbar und hinsichtlich etwaiger Fehler die Verfahren wasserdicht zu machen. Gegen diesen Schritt in Richtung totale Transparenz juristischer Verfahren hat zumindest der Kriminalpolitische Kreis nichts einzuwenden. Inhaltlich hörte man auch auf der Konferenz des Görlitzer Landgerichts kein großes Veto gegen dieses Ziel. Aber bei beiden Genannten bleibt ein Zweifel an der Praktikabilität. So verwies während der Konferenz der Präsident des Landgerichts, Friedrich-Leopold Graf zu Stolberg-Stolberg, auf den immensen technischen Aufwand, den diese Neuerung mit sich brächte. Das Rechtsmagazin Legal Tribune Online geht dabei von Ausstattungskosten von bis zu 32.500 Euro pro Gerichtssaal aus. Wohlgemerkt in ganz Deutschland. Hinzu würden nach Schätzungen des Bundesjustizministeriums einmalige Entwicklungskosten in Höhe von rund zwei Millionen Euro und jährliche Wartungskosten in Höhe von rund vier Millionen Euro kommen. Ferner benötige man für die Betreuung der Technik ausreichend geschultes Personal. Allein der Aufwand sei aber nicht das einzige Problem. So gebe es auch bereits jetzt bei der Verwendung von Aufzeichnungstechnik immer wieder Probleme bei der Spracherkennung und der Transkription. Ferner entstünden gewaltige Datenmengen und die Kontrolle und Verfügbarkeit der Aufnahme müsse ständig gewährleistet werden. Der Präsident geht dabei von einer Explosion der Verfahrenszeiten aus. 

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Nach dem Zusammenschluss 2013 ist Bautzen nur noch die Außenkammer des Landgerichts Görlitz. Foto: Benjamin Vogt

Neben der technischen Seite des Problems gebe es aber auch ein prinzipielles. So bezeichnet Richter Reinhard Schade die Art eines Prozesses bis jetzt als eine Art logische Verdichtung. Mit der neuen Technik werde sich die Rechtsprechung in einen eher mathematischen Prozess entwickeln. Denn schlussendlich gehe es um die Ermöglichung von Revisionsverfahren. Diese sind aber nur hinsichtlich Rechtsvorschriften möglich. Ein Anwalt, der seinen Mandanten also rausboxen will (oder aus finanziellen Interessen an der Verlängerung eines Verfahrens interessiert ist) wird nun die Mitschnitte nach jeder kleinsten Unregelmäßigkeit durchforsten, um einen Grund für eine Revision zu finden. In der Folge wird jeder Richter versuchen, sich abzusichern. In dieser Folge entsteht wieder ein beträchtlicher Arbeitsaufwand. Und das, nach Aussage der Beteiligten, wegen eines nicht wirklich relevanten Problems. Denn es sei schlichtweg nicht der Fall, dass es chronisch zu Falschaussagen durch Richter kommt, die es mithilfe von Filmaufnahmen abzustellen gilt. „Ich glaube, das praktische Bedürfnis gibt es einfach nicht“, so der Landgerichtspräsident. Ein weiteres Problem ist die Verhaltensänderung von Menschen, wenn diese gefilmt werden. Und auch der Datenschutz sei technisch schlichtweg nicht zu gewährleisten. Auch wenn das Bundesjustizministerium zum Schutz der Persönlichkeitsrechte die neue Strafvorschrift des § 353d Nr. 4 StGB-E eingeführt hat. Dabei soll das Verbreiten und die Veröffentlichung von im Ermittlungsverfahren oder in der Hauptverhandlung erstellten Bildtonaufzeichnungen unter Strafe gestellt werden.

Ähnlich kritisch werde eine weitere Gesetzesänderung gesehen, nach der in Zukunft Zivilverfahren in einer Videokonferenz verhandelt werden dürfen. Grundsätzlich sei zu betonen, dass es dabei zu einer Änderung der Prozessmittel komme, was ein prozessualer Systembruch sei. Da die Wahrheitsfindung die Kernaufgabe des Richters sei, er also entscheiden muss, was wahr ist und was nicht, muss er auch entscheiden dürfen, wie er diese Wahrheit herausfindet. „Wenn ich für das Ergebnis zuständig bin, muss ich auch die Wahl der Mittel haben“, erläutert Reinhard Schade. „Es lügt sich vor der Kamera leichter“, ergänzt der Landgerichtspräsident. Auch wisse man im Zweifelsfall nicht, wer alles hinter dem Bildschirm sitzt, womit auch das Hausrecht des Richters obsolet wird. Ferner könne man auch hier einen Mitschnitt nicht ausschließen und es gebe eine große Palette an Möglichkeiten, ein Verfahren zu verzögern. Und natürlich fehle auch hierfür schlicht die technische Ausstattung. 

Gemein ist diesen drei großen Themenkomplexen der Verweis auf mangelnde technische und personelle Ressourcen. Angesichts dieses Problems, welches nicht nur die Justiz hat, können sich Bedenkenträger, die gegen die geplanten Neuerungen schwerwiegendere Einwände haben, eigentlich getrost zurücklehnen. Gilt doch inzwischen in Deutschland nicht nur bei diesen Zukunftsplänen: „Es funktioniert einfach nicht“.

Benjamin Vogt / 11.03.2023

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