Landrat mit nur 22,3 Prozent Zustimmung
Beim „Schlesischen Nachtlesen“ am 9. April in Görlitz hatte Stephan Meyer die Gelegenheit, sich auch von einer privaten Seite zu präsentieren. Foto: Matthias Wehnert
Der zweite Wahlgang der Landratswahl bringt Dr. Stephan Meyer (CDU) ab September ins Amt. Der Vorsprung war deutlich und zugleich dennoch kein Sprung in die Herzen der Wahlberechtigten.
Landkreis Görlitz. Der 21. Mai war so ein typischer Tag für Dr. Stephan Meyer auf dem Weg ins Landratsamt. Michael Kretschmer hatte Meyer an die Hand genommen, um den Oderwitzer auch im niederschlesischen Norden der Oberlausitz bekannt zu machen. Bei der Einweihung des Naturerlebnispfades Kreba-Neudorf erläuterte der MP, dass derartige Segnungen der Landesregierung natürlich nur unters Volk gebracht werden können, wenn man auch künftig die richtigen Leute an den Hebeln der Politik sitzen hat – „einer davon steht neben mir“, so Kretschmer sinngemäß über seinen Parteifreund Meyer, der in dieser Situation nur so dastehen konnte wie ein Schüler, der von der Klassenlehrerin ihren Schützlingen mit den Worten vorgestellt wird: „Das ist Euer neuer Mitschüler Stephan, ich hoffe Ihr werdet Euch gut mit ihm verstehen.“
Die Klassengemeinschaft blieb am 3. Juli ganz diszipliniert, stellte die Versprechungen zur Verwendung der Klassenkasse nicht in Frage und machte der Klassenlehrerin auch sonst keine Schande. Oder – der Wähler hat proportional zum Umfang der gewonnenen Werbematerialschlacht Stephan Meyer mit 56,4 Prozent der Stimmen gegenüber Sebastian Wippel von der AfD (35,8 Prozent) und Einzelbewerber Sylvio Arndt (7,8 Prozent) den Vorzug gegeben. Die Betonung liegt dabei auf „der Wähler“ – die meisten Wahlberechtigten waren genau das nämlich nicht. 46.522 Zustimmungsbekundungen für Stephan Meyer bei 208.477 Wahlberechtigten bedeuteten letztlich mit 22,3 Prozent der Stimmberechtigten einen zweiten Platz hinter dem großen Sieger der Wahl – dem Verzweifelten oder dem von der Politik abgewandten, der mit 60,2 Prozent nicht abgegebener Stimmen phänomenal triumphierte.
Nun gilt es in der Kommunalpolitik und insbesondere für einen Landrat, 97 oder mehr Prozent der Mittel gesetzlichen Vorgaben getreu zu verwenden, selbst also kaum Spielraum zu haben, und dabei den anderenorts gesetzten rechtlichen Rahmen nicht zu überschreiten – Politik weitgehend ohne Politik – flankiert durch eingesammelte Sympathiepunkte.
Ein Modell, dass unter der alternativlosen Angela Merkel sogar schon jede Pore der großen Politik in Beschlag genommen hat und Ministerpräsidenten wie Daniel Günther in Schleswig-Holstein oder Tobias Hans im Saarland hervorbrachte, bei denen das Prädikat „nett“ die Geschichtsschreibung dereinst dominieren dürfte.
Nett sein kann eine Option sein Erfolge anzubahnen. Sie funktioniert aber nur solange, wie ein Amtsträger ebenfalls in der Lage ist, auch die Zähne zu zeigen. Je länger Bernd Lange Landrat war, umso mehr konnte er mit seiner knorrigen Art den Dresdnern auch zum Wohle des Kreises in die Suppe spucken – und genau für diese knorrige Widerspenstigkeit gab es sehr viel wohlwollenden Respekt aus ganz unterschiedlichen Lagern. Ganz im Geiste von Franz-Josef Strauß, der stets bekundete: „Everybody’s darling is everybody’s Depp“ – oder Hochdeutsch: Jedermanns Liebling ist jedermanns Trottel.
Eben an dieser Stelle wird es nun schwierig. Die Bandbreite der Vertreter der regionalen Front von Schwarz bis Grün im Kampf gegen Blau werden in Zeiten noch dramatisch steigender finanzieller Engpässe ihren politischen Tribut einfordern. Kann es da im Kreis Görlitz überhaupt einen emanzipierten Landrat, der auch mal Weggefährten überraschend energisch Paroli bietet, noch geben? Zumal Meyer dazu erst einmal das Gefängnis seines Charakters verlassen müsste, den Ball stets flacher als die Grasnarbe halten zu wollen?
Wenn Uwe Tschirner sich beim „Hausbesuch“ in Oderwitz für Oberlausitz TV Fotos von Stephan Meyer zeigen lässt, die diesen nach eigener Einschätzung besonders gut charakterisieren, dann sagt es viel über das Selbstverständnis, wenn Meyer gleich als erstes Bild ehrfurchtsvoll den Landesvater neben sich präsentiert, der als Dampflok-Heizer bei der Historik Mobil, „richtig hoch bis zum Bahnhof Bertsdorf geheizt“ habe. Aber soll weiterhin der Heizer entscheiden, wohin die Reise im Landkreis Görlitz geht? Meyer bekundete im Wahlkampf völlig zu Recht: „Überheblichkeit führt beim Bürger zu Frust." Eine 60-prozentige Nichtbeteiligung an der Wahl ist aber gerade auch eine Folge des richtigen Gespürs vieler potenzieller Wähler, dass die eigentlichen Weichen doch längst gestellt sind.
Mit diesem Pfund hätte die AfD wuchern können. Sebastian Wippel brachte es allerdings auch nicht wirklich auf 35,8 Prozent, denn spärliche 14,1 Prozent der Wahlberechtigten gaben ihm die Stimme. Die AfD behinderte sich zudem selbst, weil sie sich ebenso dem üblichen Lauf der Dinge unterordnete. Dass mit Jörg Meuthen ein intellektueller Kopf von der Parteispitze verdrängt wurde und mit Tino Chrupalla nun der Abgeordnete waltet, der sich mehr in Berlin als in Gablenz, Kodersdorf oder Neusalza-Spremberg sieht, hat Sebastian Wippel keinen Vorteil gebracht. Wenn jetzt mit Sylvio Arndt ein kompletter Quereinsteiger CDU wie AfD gleichermaßen selbst im aussichtslosen 2. Wahlgang erstaunlich viele Stimmen kostete, sollte für Union wie AfD ein Warnschuss sein, dass der Politikbetrieb im alten Muster so nicht mehr lange funktionieren wird. Bei Wahldiskussion rollte Stephan Meyer erkennbar genervt mit den Augen, wenn Arndt gegen jegliche Etikette bisheriger Gewohnheiten die Mechanismen des Politikgeschäfts 2022 in Frage stellte. Im Interview mit Uwe Tschirner sagte Meyer im Hinblick auf die Sprachlosigkeit in der gespaltenen Gesellschaft: „Wenn etwas Zeit ins Land geht, wird man (.) mit dem ein oder anderen auch wieder (reden) können.“ Aber ist es dann nicht längst zu spät und wieso ist der übrige „andere“ dann eigentlich weiterhin aus der Diskussion abgehängt?
Viel wird bei Wahlergebnissen über die Demut vor dem Wähler gesprochen. Dies hieße, sich mit 56 % Prozent in Sicherheit wiegen zu dürfen. Demut vor dem Wahlberechtigten zu haben heißt hingegen anzuerkennen, dass eigentlich nur noch 22 Prozent wirklich im alten Trott mitziehen und sich das Establishment mit dem breiten Schulterschluss für Meyer weit vom Wahlberechtigten entfernt positioniert hat. Hefte raus – sieben Jahre Klassenarbeit!