Leben nur 132.500 Deutsche in ganz Polen?
Ein sehr seltener Anblick – diese Fleischerei in Kandrzin-Cosel (Ke-dzierzyn-Kozle) trägt ein polnisch- und deutschsprachiges („Fleisch und Wurst“) Firmenschild. Foto: Till Scholtz-Knobloch
Görlitz/Warschau. Das Polnische Statistikamt hat die Zahlen der Volkszählung aus dem Jahr 2021 veröffentlicht. 38.700 in Polen gemeldete Menschen gaben als ihre dominierende Nationalität deutsch an, weitere 93.800 deklarierten neben ihrer Erstoption, sich auch der Gruppe der Deutschen zuzuordnen, womit 132.500 Bekenntnisse zum Deutschtum in Polen vorliegen.
Zum Vergleich: Allein in der deutschen Stadthälfte von Görlitz lebten im März 5.021 Polen und damit bereits ein Sechsundzwanzigstel aller in Polen lebenden Deutschen!
Das polnische Minderheitsverständnis, in dem immerhin gegenüber zu Deutschland noch sauber zwischen Nationalität – also dem nationalen Bewusstsein völlig unabhängig vom eigenen Sprachvermögen und der Staatsangehörigkeit – und eben der Staatsangehörigkeit unterschieden wird, weist eine Besonderheit auf. An Weichsel und Oder wird im Gegensatz zu Deutschland nicht von nationalen Minderheiten gesprochen, sondern von „nationalen und ethnischen Minderheiten“. Diese Terminologie ist letztlich ein Resultat des früher so bezeichneten „schwebenden Volkstums“ vor allem unter den Oberschlesiern, aber auch unter Masuren und Kaschuben.
Der Umstand, dass in der am dichtest besiedelten Region des Landes – Oberschlesien – schon zu deutscher Zeit oft Nationalität und erste Muttersprache voneinander abwichen, begründete die Hilfskonstruktion einer „ethnischen Minderheit“. Intention war nach 1945 zugleich jedoch vor allem, dass eine ethnische Sonderform die deutsche Option oder eine deutsch-oberschlesische Mischoption kaschieren konnte.
132.500 Deutschen stehen in Polen heute 585.700 Menschen gegenüber, die sich als Oberschlesier deklarieren, 176.900 Einwohner Polens bekennen sich als Kaschuben, die zumeist den slawischen Idiom im Hinterland von Danzig sprechen. Den drei „großen“ Minderheiten standen 2021 gegenüber: 79.400 Ukrainer, 54.300 Weißrussen, 48.700 Briten, 25.100 US-Amerikaner, 17.700 Italiener, 15.700 Juden (die quasi von der nationalen Frage ausgenommen erfasst sind), 14.800 Russen, 13.000 Franzosen, 12.700 Lemken in Galizien, 11.800 Roma, 10.000 Iren und 9.700 Litauer. Letztere, Weißrussen oder Ukrainer gehörten fast vollständig autochthoner, also alteingesessener Bevölkerung an.
Unter den 132.500 Deutschen ist der Anteil von Erwerbszuwanderern aus der Nachwendezeit in der Minderheit. Die meisten Deutschen in Polen leben in der oberschlesischen Woiwodschaft Oppeln (Opole), die historisch besonders vom „schwebenden Volkstum“ bewohnt wurde. Die Annahme, diese für Polen zu begeistern, was ihre Vertreibung verhinderte, bewahrheitete sich nach 1945 jedoch nicht. Die Region blieb der „Hotspot“ für Millionen deutsche Aussiedler in die Bundesrepublik.
Nach der Aufnahme von 1,5 Millionen Ukrainern infolge des Krieges mit Russland machen die 79.400 alteingesessenen Ukrainer in Polen mittlerweile sogar nur eine verschwindende Minderheit aller heute in Polen lebenden Ukrainer aus.
Den 132.500 deutsch Optierenden im Lande stehen interessanterweise 199.000 Menschen gegenüber, die die deutsche Sprache im häuslichen Kontakt verwenden! 6.600 Menschen in Polen nutzen daheim nur die deutsche Sprache und dürften damit weitgehend Zuwanderer aus der Nachwendezeit sein. 600 Menschen sprechen Niederländisch und 400 Norwegisch.
Überraschend bzw. interpretationsbedürftig ist, dass sich 2011 nur 58.170 Menschen zum Gebrauch der deutschen Sprache bekannten und nun fast das Vierfache! Die deutsche Minderheit Polens ist im Sejm durch den Abgeordneten Ryszard Galla vertreten. Dieser bekundete, dass Corona die Erfassung seiner Ansicht nach deutlich beeinflusst habe. Vor dem Hintergrund vieler telefonisch erhobener Daten ist hier sicherlich noch genau auf regionale Unterschiede zu schauen. Dies ist vorerst nicht möglich, da die Zahlen noch nicht regional aufgeschlüsselt vorgestellt wurden. In jedem Fall können sich die „Nationaloberschlesier“ in den beiden oberschlesischen Woiwodschaften als „Verlierer“ betrachten, denn nach einem „schlesischen“ Votum von 840.000 Menschen 2011 bekannten sich nun nur 585.000 Oberschlesier zu einer „schlesischen Nationalität“, deren Existenz oder Nichtexistenz weiterhin leidenschaftlich diskutiert wird.
Die Gesellschaften der deutschen Minderheit in Polen sprechen häufig von einer halben Million Deutschen in Polen und sehen diese Option als Unterart eines eigentlich deutschen Bekenntnisses. Umgekehrt sieht der Großteil der nationalen Polen in den (Ober-)Schlesiern Polen mit fehlendem polnischem Nationalbewusstsein. Unzweifelhaft ist, dass die „Dunkelziffer“ deutscher Bevölkerung in Polen aus historisch begründeter Bekenntnisangst sicher Zahlen weit jenseits von 132.500 begründet.