Lust und Leid beim Schreiten zu den Wahlurnen am Sonntag
Der Schriftzug „Wählt Thälmann!“ steht seit 1985 an der Friedhofsmauer in der Bergstraße, als das DDR–Fernsehen hier einen Film zu Thälmanns 100. Geburtstags drehte. Foto: Till Scholtz-Knobloch
Am Sonntag, dem 9. Juni, haben die Wahlberechtigten im Freistaat die Möglichkeit, bei Wahlen ihre Vertreter in die Kreistage, Gemeinde- oder Stadträte und Ortschaftsräte zu entsenden. Während eigentlich fast jeder Kommunalwahlkandidaten persönlich kennt, wird die zeitgleiche EU-Wahl deutlich abstrakter wahrgenommen und offenbart gar Demokratiedefizite in Brüssel.
Region. Das Sprichwort „Wer die Wahl hat, hat die Qual“, soll im 15. Jahrhundert erstmalig belegt sein, lautete damals allerdings kurz: „ Wahl macht Qual“. Sprich, nicht auswählen zu können kann einem auch manche Last der Verantwortung oder spätere Gewissensbisse eingestandener Falscheinschätzung nehmen. Der Umstand, dass man bei einer politischen Wahl, seine Stimme einfach „abgibt“, also quasi keine Chance hat, seine vielleicht später von anderen umgedeutete Stimme irgendwie „wiederzubekommen“, wird vom manchem sogar als Ursache, sich einer Wahl zu entziehen, herangezogen. Immerhin: Es gibt – und auch das ist eine Wahlfreiheit – keinen Zwang seine Stimme ausgerechnet in einer „Urne“ zu versenken. Diejenigen, die dies trotzdem in schöner Regelmäßigkeit tun, haben sich am 9. Juni gleich durch mehrere Bögen mit unterschiedlichen Optionen durchzukämpfen. Wer ohne Scheuklappen an die Sache herangeht, der sollte also gerne eine Weile in der Wahlkabine verbringen, bis er für die unterschiedlichen Wahlen die Kandidatenlisten wenigstens halbwegs aufmerksam überflogen hat. Aller standardisierter und geradezu reflexartiger gegenseitiger Empörung von Parteien zum Trotz darf der Wähler nämlich gerne bei Kommunalwahlen Stimmen „panaschieren“. Bei der Kreistagswahl gilt es zum Beispiel drei Stimmen entweder einem einzigen Bewerber zu geben (Kumulieren) oder aber eben auf verschiedene Wahlvorschläge aufzuteilen (Panaschieren). Wer also aus völlig entgegengesetzten Lagern zwei oder drei Menschen auf dem Wahlzettel findet, denen er die menschliche Reife zutraut, sich den üblichen Mechanismen einstudierter politischer Schaukämpfe zu entziehen, der kann gültig auf einem Wahlzettel zwischen Parteien auf diese Weise springen.
So verhindert der Wähler auch, dass man aus Gewohnheit einfach von oben nach unten wählt. Viele Wähler stimmen quasi ohne nähere Kenntnis einer Vorauswahl einer Partei zu, indem sie dem Spitzenkandidaten oder vielleicht dem Zweitgenanten ihre Stimme geben, Kandidaten auf hinteren Plätzen jedoch keine Beachtung schenken.
In jedem Fall sollte man auf dem Wahlzettel zunächst schauen, wie viele Stimmen auf dem Bogen überhaupt zu verteilen sind und in welchen der vielen Umschläge diese gehören. Das variiert von Wahl zu Wahl. In den Gemeinden Waldhufen und Vierkirchen kommt am 9. Juni kommunalpolitisch sogar noch die Abstimmung über eine von beiden Gemeinden ausgearbeitete Gemeindefusion hinzu.
Gleichzeitig zu den Kommunalwahlen im Freistaat Sachsen findet am Sonntag aber auch noch die Wahl zum EU-Parlament statt, womit der Wähler am ehesten fremdelt. Das liegt nicht allein an der Entfernung zu Brüssel oder dem Umstand, dass infolge einer fehlenden gemeinsamen Sprache im Grunde keine wirkliche einheitliche europäische Öffentlichkeit existiert, die aus gemeinsamen Erfahrungswerten wirklich länderübergreifend diskutiert. Mitunter sind sogar sehr unterschiedliche Parteien der einzelnen Länder in Brüssel in Fraktionsgemeinschaften vereint, die eigentlich nur wenige gemeinsame Ziele verfolgen und deren Vertreter weniger einem Fraktionszwang in Brüssel, als Erwartungszwängen ihrer Partei im Heimatland ausgesetzt sind. Vor allem aber dürfen die Deutschen nur 96 der 720 Abgeordneten des Europaparlaments wählen. „Das zentrale Defizit liegt darin, dass es in der EU kein gleiches Stimmrecht gibt“, räumt so das 2023 in Lizenzausgabe der Bundeszentrale für politische Bildung erschienene Rechtslexikon aus dem Verlag J.H.W. Dietz ein.
Vertritt in Deutschland oder Frankreich ein Abgeordneter 857.000 Wähler, seien es in Luxemburg 83.000 und in Malta gar nur 67.000 Wähler. Dieser ist damit fast 13-fach gegenüber jedem Deutschen gewichtet!
Das Bundesverfassungsgericht hätte deshalb ’euphemistisch’ bekannt, die EU sei erheblich „überföderalisiert“. Wobei der Begriff „euphemistisch“ (also beschönigend) hier selbst bereits euphemistisch daherkommt. Obwohl das EU-Parlament inzwischen den meisten Rechtsakten der EU zustimmen müsse, bleiben manche Politikbereiche ausschließliche Angelegenheit des Europäischen Rates. Dieser existiert ebenfalls unausgewogen als ungewählte Zusammenkunft von europäischen Staats- und Regierungschefs, die vom Wähler hierzu gar kein Mandat erhalten haben. Der Europäische Rat beschließt dabei ohne oder nur nach bloßer ’Anhörung’ des Parlaments! Selbst die ungleichmäßige besetzte Vertretung der Europäer – das Parlament – liefert damit oft mehr Schauspielkunst als tatsächliche Entscheidungsfindung.
Kaiser Wilhelm sprach im Deutschen Kaiserreich bezogen auf den Reichstag von einer „Quasselbude“ und sah sich als letzte Instanz. Immerhin nahmen aber die Zeitungen die Debatten damals begeistert auf und druckten sie in vorelektronischer Zeit oft ungekürzt ab; eine Öffentlichkeit entstand so durch den Druck an den Stammtischen! Existiert ein solcher Druck heute, wo mit Ursula von der Leyen eine Kommissionspräsidenten als Quasi-Oberhaupt zwar vom EU-Parlament gewählt ist, die faktische Auswahl aber wieder beim Europäischen Rat liegt? Denn dieses kaum legitimierte Gremium schlägt vor. Da Europa so schwer verständlich ist, dürfte ein Teil der Wahlbeteiligung bei der EU-Wahl so „Abfallprodukt“ der gleichzeitig stattfindenden Kommunalwahlen sein.
Immerhin unterliegt die EU-Wahl einem Demokratiedefizit gewiss nicht: In Deutschland besteht bei ihr keine 5-Prozent-Sperrklausel. Stimmen an kleinere Parteien gehen anders als bei Bundes- oder Landtagswahlen nicht verloren. Es lohnt insofern mehr als sonst auch auf kleine Parteien zu schauen, ob deren medial oft ausgeblendete Ideen Gefallen finden. Dies kann man zum Beispiel über den Wahlomat (www.wahl-o-mat.de) erkunden, zu dem und zu dessen kleinem Bruder „Voto“ für die Görlitzer Kreistagswahl Sie einen separaten Beitrag in dieser Ausgabe finden. Auch bei den Kommunalwahlen bremst übrigens keine Sperrklause die Kleinen aus. Das wird eher wieder abends in den TV-Wahlsendungen der Fall sein, in der uns Prozentzahlen manch abgestürzter etablierter Parteien genau genannt werden, während vielleicht bessere Voten für eher Unbekannte elegant unter „andere Parteien“ ausgefiltert werden.