Markus Rietzschel stellt die Raumfahrt auf den Kopf
Lukas Rietzschel, die Schauspieler Cornelia Werner und Swen Hönig und Rietzschels Gesprächspartner Cornelius Pollmer (v.l.n.r.) führten durch die Premierenlesung. Foto: Till Scholtz-Knobloch
Mit seinem Erstlingsroman „Mit der Faust in die Welt schlagen“ hatte es der Görlitzer Lukas Rietzschel in die Bestsellerlisten geschafft. Die Aufarbeitung Ost setzt er nun mit „Raumfahrer“ fort und liefert eine kuriose Premierenlesung im Werk 1 in Görlitz ab.
Görlitz. „95 Prozent der Lesungen fußen auf dem Konzept, dass ein Autor mit einem Glas Wasser vor dem Publikum sitzt“, landet Lukas Rietzschel den ersten Lacher bei der Premierenlesung seines neuen Romans „Raumfahrer“ im Werk 1 auf dem alten Görlitzer Waggonbaugelände. Und dies vor allem deswegen, weil Rietzschel diese Bemerkung skatspielenderweise im Gespräch mit Cornelius Pollmer, dem „Ostberichterstatter“ der Süddeutschen Zeitung fallen lässt, mit dem der 27-jährige viele Generationserfahrungen eines Ostdeutschen teilt. Und zwar nicht auf der Bühne, sondern im Rahmen eines scheinbar eingespielten Schwarz-Weiß-Filmes, in dem Rietzschel und Pollmer weitläufig in zwei stilisierten Raumanzügen die Gedanken schweifen lassen und ob der Kluft mächtig schwitzen. Die Lesung dominieren nämlich vor der Leinwand auf der Bühne mit Cornelia Werner und Swen Hönig zwei Schauspieler, die szenisch aus Rietzschels neuem Roman lesen. Rietzschel selbst – so scheint es – ist gar nicht da. Als er auf der Leinwand bei einem Plausch beim Federballspiel mit Pollmer im Raumanzug über die Hitze klagt, dass nun endlich eine so etwa 15-minütige Pause nötig sei und die Besucher auf das Außengelände eilen, mutmaßen viele eher schmunzelnd als enttäuscht: „Der kommt heute gar nicht zu uns“.
Rietzschel hat damit die Idee einer Lesung im Grunde so auf den Kopf gestellt, wie es der weltbekannte, in Deutschbaselitz bei Kamenz geborene Maler, Georg Baselitz es zur Marke gemacht hat, seine Gemälde stets auf den Kopf zu stellen. Rietzschel selbst ist im Deutschbaselitzer Nachbarort Räckelwitz zur Welt gekommen. Ist der Protagonist Jan in Rietzschels Roman „Raumfahrer“ mit Baselitz verwandt? Diese Frage führt im Romanverlauf zwei Stränge zusammen. Die von Baselitz und von Jans Familie, die stellvertretend für Biografien des Ostens aufgewickelt werden.
Auf dem Klappentext heißt es, es gehe u.a. „Über Menschen, die nirgends so recht dazugehören, das sie das Alte verloren haben und zum Neuen keinen Zugang finden, die in einem luftleeren Raum zwischen Gegenwart und Zukunft schweben, Raumfahrer sind.“ Schwebenderweise sind auch Jans Eltern mit Narben durch die Wendejahre gekommen. Diese beobachtet er, um ihnen auf den Grund zu kommen. Und er fragt sich, hat das auch mit mir zu tun? „Es gibt einen Moment in dem Buch, da überkreuzen sich beide Familiengeschichten und dort kommt die Erkenntnis: Aha, vielleicht bin ich ein Raumfahrer wie die“, sagt der Autor im Gespräch mit dem Niederschlesischen Kurier.
Ihn leitet das Interesse der Nachgeboren, wobei Rietzschel hervorhebt, dass es ganz anders als bei der 68er-Generation sei. „68 – das war konfrontativ und zu Recht nachfragend. Das ist das Westbild, wie man mit einer anderen Generation umgeht“, so der Autor. Aber ausgehend von 2014/15, also mit dem Aufkommen von Pegida, sei zu beobachten, dass aus der jungen Generation im Osten viele Bücher zur Ostidentiät erläutern, dass hier eine Generation erst einmal zu „funktionieren“ hatte. „Das ist anders als 68, als Leute aus dem Krieg kamen und gleich in Institutionen drängten.“
Erst am Ende lüftete der agile Raumfahrer Rietzschel das Geheimnis, dass er hinter der Bühne die Lesung im Werk 1 manövrierte. Foto: Scholtz-Knobloch
„Aber vielleicht nerven wir die Leute auch damit“, hängt er grübelnd über seinen Beitrag der Sicht des Ostens an. Auf der Leinwand hatte der Schwarz-Weiß-Rietzschel mit Helm schelmisch ausgeführt, dass ein guter Buchverkauf dazu beitragen könnte 250.000 Euro zusammenzubekommen, um selbst ins All zu fliegen. Aber er stellt gegenüber dem Niederschlesischen Kurier klar: „Ich habe keine Sympathie für Milliardäre, die ihr Geld dafür rausschmeißen so wie Amazon-Gründer Jeff Bezos.“ Eine Affinität zur Raumfahrt könne man aus dem Buchtitel jedenfalls nicht ableiten. Aber eine solcher Trugschluss kommt bei der Lesung auch niemals auf. Vielmehr versteht es Rietzschel – wie Pollmer auch – die Gedankenkraft in eine aussagestarke Sprache zu verwandeln, die in einem philosophischen Zirkel ebenso ihren Platz hätte, wie in einer Plauderei am Gartenzaun mit dem Nachbarn.
Rietzschel und Pollmer erscheinen dann kurz vor Ende doch noch im Raumanzug auf der Bühne. Ihre Schwarz-Weiß-Aufritte waren keine Einspielungen, sondern Live-Übertragungen von hinter der Bühne!