Ohne Wissenschaft Jakob Böhme tief verstehen
Klaus Weingarten Anfang August bei Dreharbeiten in der Nikolaikirche für einen Film über den Jakob-Böhme-Bund der Zwischenkriegszeit um Joseph Anton Schneiderfranken. Foto: Matthias Wehnert
Im Mittelpunkt der Schaufensterauslage einer Buchhandlung in Zgorzelec: „Böhme“ Foto: Till Scholtz-Knobloch
Anlässlich des 400. Todestages von Jacob Böhme am 17. November stellt sich die Frage, wieso trotz eines umfangreichen Programms im Jubiläumsjahr 2024, dem 2025 das Jubiläumsjahr zu seinem 450. Geburtstag folgt, Böhme im Alltag der Stadt Görlitz eher nur am Rande sichtbar ist. Klaus Weingarten versucht Böhme heutige greifbarer zu machen.
Görlitz. Nicht, dass der Name Jacob Böhme öffentlich nicht präsent ist. Hier und da begegnet er einem im touristischen Kontext in der Altstadt. Aber so wie im Falle einer Schlüsselinvestition wie der Elektrifizierung der Bahn hat Polen auch hier wieder einmal die Nase vorn. Gleich hinter der Stadtbrücke in der ulica Pilsudskiego dokumentiert ein Böhme-Band in der Auslage einer Buchhandlung das Interesse am größten Sohn der Stadt, das überhaupt erst einmal in Übersetzung zu erschließen ist. Wenige Schritte weiter am Rondo im. Jakoba Böhme (Jacob-Böhme-Kreisel) trägt eine Hauswand an prominentester Stelle von Zgo-rzelec neuerdings ein riesiges, Böhme gewidmetes, Gemälde.
Ein Tourist, der auf deutscher Seite vom Bahnhof kommend in die Stadt eintritt, stößt dort auf kein eigentlich doch logisches Banner quer über den Bahnhofsvorplatz, das lauten könne: „Willkommen in der Böhmestadt im Böhmejahr“.
Eine Diskussion mit einem hochrangigen Kulturvertreter der Stadt dreht sich um eben dieses Defizit und er meint: „Das Problem ist eben, dass die Schriften an sich schon schwer griffig sind und dann noch den Atem einer früheren Zeit tragen“. Aber ist das nicht gerade das Argument dafür, Böhme viel stärker in unsere Zeit zu holen, anstatt die Fülle der Veranstaltungen in wissenschaftlichen Zirkeln und ihren Echokammern laufen zu lassen? Bereits das Grußwort der Stadt zur Eröffnung des Böhmejahres hatte bei mir den Eindruck erweckt, es sei in weiten Teilen aus einem Grußwort zum Jubiläum eines Sportvereins kopiert worden.
Ein neues Wandgemälde am Rondo im. Jakoba Böhme dokumentiert den neuen Stellenwert, der dem Mystiker auf polnischer Seite von Görlitz bereits gebührt. Foto: Till Scholtz-Knobloch
Doch wie greifen wir zu, wenn uns das alles in einem Sprachkleid einer anderen Zeit zufällt und uns Böhme verkündet: „Die Finsternis ist die größte Feindschaft des Lichtes und ist doch die Ursache, dass das Licht offenbar werde“? Aber auch ohne allzu viel Gehirnschmalz lässt sich eine Botschaft wie: „Je eitler der äußere Mensch wird, je dunkler wird der innere Mensch, solange, bis er gar verbleicht“ doch fast schon als ein Motto unserer Tage selbstverliebter Selfie-Kultur – einer Antikultur – ins Heute übertragen.
Böhme-Kenner Klaus Weingarten aus Hannover hatte 2015 für seinen Film „Morgenröte im Aufgang – Hommage à Jacob Böhme“ die 400 Jahre alten Originaltexte sprechen lassen. Dieses Jahr war er wiederholt in Görlitz als Referent, wie auch zu einem neuen Filmdreh und natürlich ist er am Wochenende beim großen Böhme-MemorialFestival dabei.
Im Rückblick auf die Eröffnung des Böhme-Jahres schrieb er jüngst der Redaktion: „Versuche von Übersetzungen seiner Schriften in unser heutiges Deutsch sind bereits durchgeführt worden. Als ein Beispiel ist in Abwandlung zu der 1730er-Gesamtausgabe Böhmes zum Beispiel die Buchreihe von Gerhard Wehr im Aurum-Verlag zu sehen.“
Louis Claude de Saint-Martin (1743 – 1803), der französische Wiederentdecker Jakob Böhmes im 18. Jahrhundert, habe letztlich eine Linie von Jesus Christus zu Jakob Böhme gezogen. „Was er damit andeuten wollte, führt vielleicht ein Zitat des von 1917 – 1923 in Görlitz künstlerisch und geistig wirkenden Malers und Schriftstellers Joseph Anton Schneiderfranken weiter aus, der unter seinem geistigen Namen Bô Yin Râ in seinem Buch ’Wegweiser’ von 1925 folgende Zeilen veröffentlicht: ’Wer aber Böhmes Schriften wirklich durchforscht hat, — wer es sich Mühe kosten ließ, in ihre Sprache sich einzuleben, — der hat stets auch gelernt, sich vor dem Manne, der solches niederschreiben durfte, in Ehrfurcht zu beugen, und es ist längst bezeugt, daß diese Ehrfurcht sich gerade dort am stärksten einstellt, wo eigener Seele Tiefe aufklingt, sobald die wundersamen Schätze erst ertastet werden, die Jakob Böhmes Weltentiefe in sich birgt (...) Was aber hier ausdrücklich gegeben werden soll, ist die nur aus einer einzigen Quelle erlangbare Darlegung von Böhmes geistiger Herkunft und wurde veranlaßt durch die stets wiederholte Beobachtung, daß auch die besten Erklärer des geistigen Phänomens Jakob Böhme, weder den Menschen restlos zu deuten vermögen, noch die Schriften, solange sie nicht um die Beziehungen Böhmes zu dem geistigen Kreise der ’Leuchtenden des Urlichts’ wissen.“
In diesem Sinne strahle das Werk der historischen Figur Jacob Böhme auf uns heutigen Menschen aus einer fernen Zukunft entgegen und ist für uns wahrscheinlich noch schwieriger verständlich als dem Zeitgenossen Böhmes, vermutet Klaus Weingarten.
Weingarten sieht das Verstehen Böhmes dennoch gerade nicht als etwas Wissenschaftliches an: „Die Schlüssel sind keine intellektuelle Bildung oder eine wissenschaftliche Herangehensweise, wie sie in unserer Gesellschaft weit verbreitet ist, sondern es muss eine bereits ausgeprägte Empfindungsfähigkeit und eine gute Herzensbildung mitgebracht werden, wie sie weniger oft gegeben ist. Böhme bezeichnete diesen Weg als einen Kinderweg.“ Bô Yin Râ (Joseph Anton Schneiderfranken), der mit dem Jakob-Böhme-Bund von 1920 bis 1924 quasi eine künstlerische Empfindungsfähigkeit mit weit überregionaler Strahlkraft in Görlitz führte, habe ergänzt, „dass auf diesem keine ’kindische’, sondern eine ’kindliche’ Weltanschauung gefragt ist. Für alle Menschen, die diese Gemütsverfassung ausgebildet haben, steht Böhme offen, für die anderen bleibt er fremd.“
Und so schlussfolgert Klaus Weingarten: „Ich glaube nicht, dass es an Übersetzungen Böhmes Worte ins heutige Deutsch fehlt, sondern wir eher einen Mangel an gelungenen Anthologien seiner originalen Worte, die in die Kernbotschaften Böhmes einführen, zu beklagen haben. Denn an vielen Stellen drückt er sich in einfachen Worten sehr verständlich aus.“
Und so ist jedem wissenschaftlichem Geschwafel frei, eine Empfindungsfähigkeit und gute Herzensbildung wohl genug, die ewigen Botschaften Böhmes nachzuempfinden. Böhme sagte: „Ich richte niemand, und ist das Verdammen ein falsches Geschwätz.“
In heutiger Zeit mit Thesen absoluter gesellschaftlicher, politischer oder wissenschaftlicher Wahrheit, Hasskommentaren oder Brandmauern bleibt Böhme insofern hochaktuell und erinnert uns daran, dass auch Gottessohn nicht in der bequemen Mitte Anhänger fand, sondern zum Entsetzen der Pharisäer seiner Zeit Huren und Zöllner zur Umkehr führte, obwohl letztere im Römischen Reich die staatliche Lizenz zur Ausbeutung der Massen hatten.
Und so schreibt Böhme in seinem kommenden 450. Geburtsjahr, das zugleich auch das 500. Jubiläumsjahr der Reformation in Görlitz sein wird, manchen Pharisäern unserer Tage fast schon ins Buch des Lebens: „Gott wirft keine Seele weg, sie werfe sich denn selber weg: Eine jede ist sich selbst Gericht.“