Opfer von Gewalt empfinden oft Retraumatisierung
Geert Mackenroth bei einer Veranstaltung im Görlitzer Rathaus Foto: Till Scholtz-Knobloch
Dresden. Wer als Opfer einer Gewalttat vom Staat die ihm zustehende finanzielle Entschädigung verlangt, der sollte besser nicht auf Sachsen setzen. Der Kommunale Sozialverband hat im vergangenen Jahr mehr als die Hälfte der Anträge nach dem Opferentschädigungsgesetz als „erledigt aus sonstigen Gründen“ abgestempelt (54,8 Prozent). Das geht aus der Dokumentation des Weißen Rings hervor, Deutschlands größter Hilfsorganisation für Kriminalitätsopfer.
Solche Gründe können zum Beispiel die Übertragung des Falls in ein anderes Bundesland, die Rücknahme des Antrags durch den Betroffenen oder der Tod des Antragstellenden sein. 21,8 Prozent der Fälle wurden abgelehnt. „Damit sieht zumindest die Zahl der Ablehnungen erstmal nicht schlecht aus, aber der Wert der ‚Erledigungen aus sonstigen Gründen‘ muss sich unbedingt ändern. Diese ‚Erledigungen‘ sind meistens als Ablehnungen zu werten, denn die Betroffenen erhalten keine Unterstützung“, sagt der Landesvorsitzende des Weißen Rings Geert Mackenroth. Große Sorgen bereite ihm auch der niedrige Wert der Anerkennungen (23,4 Prozent): „Nicht mal einem Viertel der Opfer hat der Staat in Sachsen geholfen, das ist viel zu wenig. Opfer müssen zu ihrem Recht auf Entschädigung kommen“, so Mackenroth. Mit dem 1976 verabschiedeten Opferentschädigungsgesetz (OEG) verpflichtet sich der Staat, Opfer von Gewalttaten, wie etwa Körperverletzung, häuslicher Gewalt oder sexuellem Missbrauch, zu unterstützen. Sie sollen vor gesundheitlichen und wirtschaftlichen Nachteilen durch die Tat geschützt werden, der Staat soll laut Gesetz zum Beispiel Kosten für medizinische Behandlungen oder Rentenzahlungen übernehmen. Die Entscheidung über die Anträge liegt bei den Ämtern auf Landesebene.
Wie das OEG in der Praxis umgesetzt wird, hat die Redaktion des Weißen Rings analysiert und im Juni im Magazin „Forum Opferhilfe“ und online unter www.forum-opferhilfe.de/oeg veröffentlicht. Die Ergebnisse, so der Opferverband, würden ein erschütterndes Bild zeichnen.
Die wichtigsten Erkenntnisse seien: 1. Viel zu wenige Gewaltopfer stellen einen Entschädigungsantrag. Das Gesetz ist weitgehend unbekannt. 2. Es gibt erhebliche Unterschiede zwischen den Bundesländern bei den Anerkennungs- und Ablehnungsquoten. 3. Gewaltopfer empfinden die Verwaltungsverfahren als unsensibel, belastend und vielfach sogar als retraumatisierend.
„2021 war ein sehr schlechtes Jahr für Opfer, die von Gewalt betroffen waren. Das OEG ist ein gutes Gesetz, aber der Staat hält sein Hilfsversprechen nicht. Die Unterstützung kommt nicht bei den Betroffenen an“, ordnet der Bundesvorsitzende des Weißen Rings, Prof. Jörg Ziercke, die Gesamtlage im Bund ein. Vor allem brauche es einen Kulturwandel in den Ämtern: „Die Behörden müssen auf Anerkennung prüfen, nicht auf Ablehnung. In Deutschland muss der Leitsatz gelten: Im Zweifel für das Opfer!“ Geert Mackenroth fügt hinzu: „Ich möchte unterstreichen, dass Verfahren von der Behörde unbedingt zügiger bearbeitet werden sollten. Es gibt Fälle, die schon seit Jahren laufen. Ich kann gut verstehen, dass das für viele Betroffene nur schwer zu ertragen ist und sie ihre Anträge zurückziehen. Das kann nicht im Sinne dieses Gesetzes sein.“