Sackgasse 'Aufklärung' statt Dialog auf Augenhöhe
Politikwissenschaftler Sebastian Trept (links) und Felix Schilk, dessen Dissertation „Die Identität der Neuen Rechten. Eine Soziologie konservativer Krisennarrative“ zum Inhalt hat, als Referenten in der Rabryka. Foto: Till Scholtz-Knobloch
Görlitz. Im Juni 2021 brachte der Niederschlesische Kurier die Titelgeschichte „Wie anfällig ist Görlitz für Stigmatisierungen?“. Es ging um das damals weit gediehene Anliegen, in der vornehmlich unter Corona gesellschaftlich geteilten Stadt Görlitz, eine Debatte aller Einwohner auf Augenhöhe zu initiieren. Die Idee eines neuen Runden Tisches – so wie im letzten großen Gesellschaftsreset 1989/90 – schien auch eine Chance im Rathaus zu haben, im Gespräch war als Moderator Pastor Eugen Böhler, der kurz darauf als langjähriger Familienbeauftragter der Stadt aus dem Amt geschieden war. Aus der Sache wurde nichts, weil ein einziger Pressebericht die Demontage des avisierten Moderators erledigte. Ob nun die immer wieder aufblitzende Beute-Lust an der Demontage oder ein stilles Einvernehmen von Akteuren mit Vollzugsmeldung – „Problem gelöst“ – die Ursache war, wird sich vermutlich nie klären lassen.
1 1/2 Jahre später hat die Strategie einer heute ’kontrollierten Dialog-Fiktion’ längst feste Konturen angenommen und zwar in Gestalt einer natürlich völlig ideologiefreien ’Bildungsarbeit’. Nach ähnlichen Debatten im Innenhof der Stadtbibliothek oder bei der Volkshochschule referierten im Zentrum für Jugend- und Soziokultur „Rabryka“ Donnerstag letzter Woche nun Sebastian Trept und Felix Schilk – im Auftrag der Landeszentrale für Politische Bildung und auch dank finanzieller Zuwendung der Stadt Görlitz an die Rabryka – wie Verschwörungstheorien zu definieren sind. Das wird (erneut) ein hochanstrengendes Unterfangen, denn im scheinbar paritätisch gespaltenen Publikum spielen unter anderem ein Senckenberg-Wissenschaftler, eine ehemalige Journalistin der Sächsischen Zeitung, ein Politikwissenschaftler und ein pensionierter Diplomat gallisches Dorf und nehmen im Tucholsky’schen Sinne Begründungen der Thesen einfach wörtlich und fragen zum Beispiel: „Das hieße doch eigentlich, dass sich Jens Spahn als Verschwörungstheoretiker hervortat, als er im November 2021 sagte: ’Wahrscheinlich wird am Ende dieses Winters jeder geimpft, genesen oder gestorben sein.’ Oder?“
Sebastian Trept kann in solchen Momenten kaum Contenance bewahren. Für die Verschwörungstheorie sei nach seiner Einschätzung entscheidend, dass angeblich verborgene Mächte ins Feld geführt werden. Der Verschwörungstheoretiker stehe damit jedoch abseits. Doch im Vortrag kann es nicht einfach weitergehen, denn ein neuerlicher Einwand lautet: „Es gab Anwohner, die im Zweiten Weltkrieg in und um Auschwitz auf die wenigen geflohenen KZ-Insassen stießen und deren Berichte aus dem Lager quasi als ausgeschmückte Verschwörungserzählung zurückwiesen. Und doch folgte bald eine erschütternde Bestätigung.“ Der Mensch neige eben dazu, das Unglaubliche gar nicht ins Kalkül zu ziehen. Das Argument ist heikel, hatten die Referenten in ihrer Präsentation bereits zu konstruieren versucht, dass Weltverschwörung und Antisemitismus quasi zwei Seiten einer gleichen Medaille seien. Es wird nun zurückgerudert, ebenso als eine Diskutantin beklagte, eine Debatte könne schon dann nicht mehr als offen bezeichnet werden, wenn – wie an diesem Abend – unter der Überschrift „Politische Sekten als Triebkräfte der gesellschaftlichen Spaltung: Reichsbürger, Querdenker und Co.“, ein gesprochenes Urteil nur noch unter das Volk gebracht werde.
Dennoch leistet der Abend dann noch ganz unverhofft einen wichtigen Debattenbeitrag. Allerdings erst deutlich nach 22.00 Uhr und bezeichnenderweise, als die Referenten bereits zum Bahnhof aufgebrochen sind. Denn anders als konfrontativ auf der Straße sitzt sich hier ein Publikum gleichgewichtet mit diametralen Auffassungen gegenüber. Bis das Licht der Rabryka abgeschaltet wird, drehen sich Gespräche nun um die Fragen: „Welche Motivation hat Dich heute hierhergeführt?“, „Warum schaffen wir es sonst nicht an einen Tisch?“, „Hast Du wenigstens ein Verständnis dafür gewonnen, wieso ich so denke?“. Der Gesprächsbedarf bleibt auf beiden Seiten riesig – ein Gesprächsbedarf, den eine ’Aufklärung’, also eine faktische Interpretationshoheit von Referenten völlig untergräbt.
Genau das trieb vor 1 1/2 Jahren auch Eugen Böhler an, als er meinte, wir müssen wieder lernen, uns eigene Meinungen zu bilden, statt Meinungen anzunehmen oder Absichten zu unterstellen. Doch wie steht die Stadt Görlitz nach 1 1/2 Jahren – ganz unabhängig der Person Böhler – zu dem Bedürfnis nach einem Runden Tisch? Vielleicht ist man im Rathaus glücklich, dass der Kelch einer schonungslosen Debatte an einem vorbeigegangen ist? Und so bat die Redaktion OB Octavian Ursu um Stellungnahme: Würden Sie im Zeichen der einsetzenden Corona-Aufarbeitung und der sich dramatisierenden Finanzkrise privater Haushalte heute, 2021 nicht zustande gekommene Runde-Tisch-Gespräche nun befürworten und nun auch initiieren? Dieser antwortete einleitend: „Aus meiner Sicht stellt sich überhaupt nicht die Frage, ob die Demonstrationen, die stattfinden, gut oder schlecht sind. Demonstrieren und sich frei äußern zu können sind – Gott sei Dank – in Deutschland ein verbrieftes Recht. Gegenteilige, negative Beispiele sind aktuell in Russland und dem Iran zu beobachten.“ Auf die zweite Frage, wer Runde-Tisch-Gespräche moderieren könnte, verweist Ursu auf „regelmäßige Gesprächsangebote, die für alle Personen und Themen offen sind“, so Bürgerfragestunden, Bürgersprechstunden bei ihm oder auch Bürgerversammlungen in den Stadtteilen. Im Hinblick auf seine Auffassung zu Corona verweist er auf die Positionen Dr. Hillerts in der Sächsischen Zeitung vom 6. November: ’Ist die Corona-Pandemie im Kreis Görlitz beendet?’. „Zu Themen wie „Energieversorgung, finden demnächst mehrere öffentliche Veranstaltungen, die von verschiedenen Seiten organisiert werden, statt.“ Also wieder die an den Aufgaben gescheiterte Rabryka, VHS und Stadtbibliothek? Das bleibt in der Antwort offen.
Hingegen nimmt Bautzen auf eine andere Weise einen neuen Anlauf. Drei Stadträte haben dort „absichtlich ohne Parteienkürzel-Zusatz“ am 14. November, 18.00 Uhr, zum offenen Gespräch eingeladen. Der Intendant des Bautzner Deutsch-Sorbischen Volkstheaters, Lutz Hillmann, hat als neutralen Ort die Probebühne seines Theaters in der Sozietät, Eingang von der Bauerngasse, zur Verfügung gestellt. Die drei Stadträte kommen übrigens aus CDU und FDP.
Wenn man 100 schwarze und 100 rote Ameisen in einen Krug setzt wird nichts passieren. Wenn man den Krug schüttelt, werden sie sich gegenseitig beginnen zu töten, weil die anderen als Urheber der Gefahr gedeutet werden. Doch wer schüttelt eigentlich wieso den großen Krug mit den Menschen darin? Darf diese Frage in Görlitz weiterhin kein echtes Forum haben?