Schlesisches Nachtlesen in und neben den Gleisen
Marianne Scholz-Paul – hier bei einer Mundartlesung in Kunnerwitz – hat ihren Weg gefunden, ohne Schlesisches Nachtlesen, nachts schlesisch zu lesen. Foto: Till Scholtz-Knobloch
Das Schlesische Nachtlesen hat an diesem Samstag viele Bezüge zur Eisenbahn und zu Jacob Böhme. Aber auch beim Nachtlesen ist die gesamte gesellschaftliche Bandbreite nicht mehr gefragt.
Am 25. März wurde die Eröffnung des renovierten Lapidariums im Turm der Jakobus-Kathedrale gefeiert. Generalvikar Kurzweil führte Gäste dort, wo er nun am Samstag liest. Foto: Matthias Wehnert
Görlitz. „Höchste Eisenbahn für erlesenen Genuss!“, lautet das Motto des diesjährigen Schlesischen Nachtlesens am 13. April. Zusätzlich zu den Kurzlesungen an ungewöhnlichen Orten im Bahnhof Görlitz und Umgebung werden im Veranstaltungssaal Gleis 1 eine szenische Lesung, ein Konzert und eine Autorenlesung angeboten. Sogar auf der polnischen Seite kommt der Bahnhof Görlitz-Moys (Stacja Zgorzelec) mit einer Lesung ins Spiel.
Markus Kurzweil liest aus einem Buch, in dem die Ostrauer Schlesier sich im Fußball gegen die Mährischen Ostrauer behaupten. Foto: Till Scholtz-Knobloch
Das Thema Bahn wurde nicht zufällig gewählt. Es nimmt Bezug auf die auslaufende Sonderausstellung im Schlesischen Museum „Niederschlesien im Aufbruch“, die sich Orten und Gewerbe an der Schlesischen Gebirgsbahn zwischen Görlitz und Waldenburg (Walbrzych) widmet. Zu einem der Ausstellungsthemen, der Taschentuchproduktion in Lauban (Luban), liest Joachim Otto, Nachfahre einer Laubaner Unternehmerfamilie, aus seinem Buch „Meine Wurzeln in deiner Heimat“ im Museum der Fotografie.
Der weiteste Ort bei den Kurzlesungen ist die tschechische Großstadt Ostrau (Ostrava), die 1941 aus Mährisch und aus Schlesisch Ostrau gebildet wurde. Hier spielt der Kriminalroman „Kinder der Wut“ von Nela Rywikova (2016, Deutsch 2023), aus dem Polizeioberrätin Susanne Heise, Leiterin der Görlitzer Polizeireviers in der Gobbinstraße, vorlesen wird.
Nach Schlesisch Ostrau nimmt der Generalvikar des Bistums Görlitz, Markus Kurzweil, seine Zuhörer mit. Wer seiner Lesung aus Ota Filips „Himmelfahrt des Lojzek aus Schlesisch Ostrau“ (1972, Deutsch 1973) lauschen möchte, muss auch einige Schritte Richtung Himmel gehen – sie findet im neu eröffneten Lapidarium der Kathedrale St. Jakobus statt, das man nur über den Glockenturm erreicht.
Etwas näher liegt Kattowitz (Katowice), ein wichtiger Handlungsort im Roman „Huta Ferrum“ von Eva Rex (2019).
Hier verbringt die Hauptfigur Agathe ihre ersten Lebensjahre im sozialistischen Polen der 70er Jahre und hierhin kehrt sie zurück, nachdem sie in der Bundesrepublik Deutschland aufwuchs. Ausschnitte aus diesem Roman trägt im Gebäude der Feuerwehr Ortsmitte Alexandra Grochowski vor, die aus Oberschlesien stammende Mitarbeiterin des Meetingpoints Memory Messiaen e. V.
Zurück in die Zeit der intensiven Eisenbahnentwicklung in Schlesien versetzt die Lektüre eines Zeitungsberichtes vom Dezember 1891 über die Eröffnung der Strecke von Hirschberg (Jelenia Gora) nach Petersdorf (Piechowice). Andreas Kolley, Marketingleiter der Europastadt GmbH, stellt in der Cafeteria von InnoLabs dar, wie man bahnbrechende technische Innovationen Ende des 19. Jahrhunderts feierte.
Einige Meter weiter bringt Gerhart Hauptmann mit „Bahnwärter Thiel“ (1888), einem der bedeutendsten Werke des deutschsprachigen Naturalismus, ganz andere Stimmungsbilder ins Programm. Hans-Peter Struppe vom Görlitzer Theater spielte vor genau 20 Jahren die Rolle des Bahnwärters Thiel in der gleichnamigen Oper von Enjott Schneider. Ob er beim Schlesischen Nachtlesen nur vorlesen wird? Diesmal ist seine Bühne die ehemalige „Materialausgabe“ im heute ungenutzten Teil des Bahnhofs Görlitz.
Die Kurzlesungen finden zwischen 17.00 und 21.00 Uhr zu jeder halben Stunde statt. Das Rahmenprogramm im Gleis 1 beginnt um 15.00 Uhr mit der szenischen Lesung „Spurwechsel – 150 Jahre Literatur über Züge, Strecken und Bahnhöfe im östlichen Europa“ und endet um 21.00 Uhr mit einer Lesung des tschechischen Autors Jaroslav Rudis aus seiner „Gebrauchsanweisung fürs Zugreisen“.
Im Dachgeschoss des Moyser Bahnhofes (Stacja Zgorzelec) ist ab 17.00 Uhr der aus Bunzlau (Boleslawiec) stammende Bestsellerautor Slawek Gortych zu Gast. Bekannt geworden ist er durch seine im Riesengebirge spielenden Krimis, die auch die deutsche Zeiten einbeziehen. Die Veranstaltung wird jedoch nur auf Polnisch abgehalten. Die Kurzlesungen beginnen im Halbstundentakt, die erste um 17.00 Uhr, die letzte um 20.30 Uhr. Danach gibt es eine Abschlusslesung mit Jaroslav Rudis. Der Eintritt umfasst alle Angebote des Schlesischen Nachtlesens und kostet 15 Euro am Tag der Veranstaltung an der Kasse des Schlesischen Museums (10.00 bis 17.00 Uhr) und im Gleis 1 im Bahnhof (14.30 bis 22.00 Uhr). Das offizielle Programm des Schlesischen Nachtlesens findet sich unter www.schlesisches-museum.de/ kulturreferat/schlesisches-nachtlesen-2024. Die Betonung liegt auf „offizielles“, denn 2024 gehört beim Nachtlesen nicht mehr jeder zum erlauchten Kreis des sich gegenseitig hofierenden Establishments.
Die aus der Grafschaft Glatz stammende Königshainerin Marianne Scholz-Paul ist nicht das erste Mal nicht mehr im Programm gelistet, obwohl sie auch dieses Mal wieder ein literarisches Programm im Antikladen in der Brüderstraße 17 darbietet. Wie auch einige Leser im offiziellen Programm widmet sie sich im 400. Todesjahr Jacob Böhmes dem Mystiker, der im 17. Jahrhundert vom damaligen Establishment der Stadt ebenso gecancelt wurde wie sie heute. Es habe mit einem Besuch von Musemsdirektor Dr. Bauer und der organisierenden Agnieszka Bormann vom Kulturreferat Schlesien 2019 begonnen. Der Veranstaltungsort Antikladen beim AfD-Stadtrat Jens Jäschke bot Anstoß und Marianne Scholz-Paul fragte damals, wieso denn Leser wie Jana Lübeck (Linke) und Franziska Schubert (Grüne) dabei sein könnten und das kurz vor der Wahl. Sie will den Umstand als solchen nicht verteufeln: „Aber man kann nicht mit zweierlei Maß messen“, meint sie. Im Ärger über das Schießen gegen sie habe sie ihre Lesung damals mit dem Gastleser Sebastian Wippel erweitert. Zudem habe im Raum gelegen: „Sie lesen ja auch immer nur von der Vertreibung“. Auffällig bleibt indes, dass politische PR-Sympathiepunkte für Leser wie Landrat Dr. Stephan Meyer, Axel Krüger (Motor) oder in diesem Jahr Andreas Kolley nie als unpassend betrachtet wurden.
Eine resolute Rentnerin wie Marianne Scholz-Paul bleibt aber – ganz altertümlich – bei ihrer Linie mit Akkordeonbegleitung, Fettschnitten und Sauren Gurken und lässt sich die Butter nicht vom Brot nehmen. Dabei müssen andere gar nicht einmal ihr Fett wegkriegen. Denn Jens Jäschke geht potenziellem Copyrightärger nun dadurch aus dem Weg, dass er den Abend ab 17.00 Uhr als „Schlesisches Mundartlesen“ im Schaufenster ausweist. Scholz-Pauls Alleinstellungsmerkmal! Schlesischer wird es an diesem Abend nirgends. „Zuvor wird gegen 16.00 Uhr eine Jacob-Böhme-Ausstellung im Schaufenster eröffnet“, verrät Jens Jäschke. Derweil wird Agniesz-ka Bormann künftig noch mehr Augenmerk auf Oberschlesien legen müssen. Beim Oberschlesischen Landesmuseum in Ratingen bei Düsseldorf wurde von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) Claudia Roth dieser Tage das dortige Kulturreferat für Oberschlesien gestrichen, berichtete der Vorstandschef der Stiftung Haus Oberschlesien Sebastian Wladarz der Redaktion brühwarm. Tabula Rasa. Unter Vertreibung will sie eher Migration unserer Tage verstehen als Trauerarbeit deutscher Geschichte.
Ideengeber des Schlesischen Nachtlesens war Dr. Michael Parak, der von 2005 bis 2009 Kulturreferent für Schlesien am Schlesischen Museum war. Er beobachtet das Nachtlesen als Geschäftsführer von „Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V.“ in Berlin mittlerweile jedoch aus der Ferne und ist stolz, die Idee als solche in der Stadt fest implementiert zu haben. „Zum letzten Schlesischen Nachtlesen bin ich nach Görlitz gefahren. Sehr gefallen hat mir zum Beispiel, dass eine Lesung an ungewöhnlichem Ort in einem Optikfachgeschäft stattfand. Vielleicht bin ich auch wieder diesen Samstag dabei“, verrät er der Redaktion. Und er sagt: „Ein Herzenswunsch war für mich immer, mit Veranstaltungen raus aus der Altstadt zu gehen. Insofern finde es toll, dass in diesem Jahr nun viel im Bahnhofsumfeld stattfindet“.