Seit 140 Jahren Felder voll Gnade in Niesky
Karin und Horst Kahle wohnen seit den 60er-Jahren in der Nieskyer Robert-Koch-Straße 4 in dem Haus, in dem die Diakonissen ihren ersten Sitz in Niesky hatten. Foto: Till Scholtz-Knobloch
Eigentlich begeht die Diakonissenanstalt Emmaus 157 Jahre ihres Bestehens. In diesem Jahr konnte dennoch rund gefeiert werden, da sich ihr Sitz seit 140 Jahren in Niesky befindet. Doch was war eigentlich davor? Diese Frage dominierte ein Jubiläumsfrühstück der Diakonissen.
Niesky/Gnadenfeld. Vor 140 Jahren wurde der Sitz der Diakonissenanstalt vom kleinen Dorf Gnadenfeld (polnisch Pawlowiczki) im Kreis Cosel (Kozle) in Oberschlesien nach Niesky verlegt – zunächst in die Robert-Koch-Straße 4. Hier wurde am 4. Mai so auch die erneuerte Gedenktafel, die an den ersten Arbeitsort der Diakonissenanstalt Emmaus in Niesky erinnert, enthüllt.
Karin und Horst Kahle erfuhren erst nach vielen Jahren, welche Geschichte ihre gute Stube als einstiges Herz der Schwesternschaft hatte. Karin Kahles Vater betrieb in Löwenberg (Lwowek) eine Heilpraktikerpraxis am Ring und suchte nach der Vertreibung in Niesky ein Haus, das sich durch separate Eingänge zugleich wieder als Praxis anbot, berichtet sie am großen Jubiläumstag mit musikalischer Umrahmung und Festreden in ihrem Garten.
Die Festgemeinde war bei Kaiserwetter vom heutigen Mutterhaus in der Plittstraße 15 umgezogen, nachdem die Diakonissen unter anderem mit Oberbürgermeisterin Kathrin Uhlemann zum Jubiläumsfrühstück bei einem historischen Vortrag zusammensaßen.
1883 war der Sitz der Diakonissenanstalt „Heinrichstift“ der Herrnhuter Brüder-Unität von Gnadenfeld am südöstlichen Rand Schlesiens an deren nordwestlichen Rand in Niesky verlegt worden.
Oberin Sonja Rönsch hatte bereits zwei Reisen nach Oberschlesien organisiert. „So haben wir uns den Ort Gnadenfeld mit allem, was darum herum ist, angeschaut. Die Herrnhuter Archivarin der Brüderunität, Claudia Mai, hat uns dabei begleitet und wir konnten uns das erste ‚Haus Emmaus‘ in Gnadenfeld anschauen“, sagt sie.
Vorgefunden haben die Nieskyerinnen dabei nur noch einige Pflanzen des einstigen Erlenhains, den Studenten des ehemaligen Predigerseminars als Park angelegt hatten. „Wir haben auch Häuser entdeckt, die damals schon standen. Wenn man weiß, wonach man schauen soll, entdeckt man viel mehr, als man vielleicht denkt. Auch das zweite Haus Emmaus gibt es in Gnadenfeld immer noch. Es ist jetzt ein Wohnhaus“, freut sich die Oberin. Sie war bereits vor 15 Jahren in Gnadenfeld, damals stand, wie sie sagt, noch das allererste Heinrichstift. Spätestens, wenn es neue Mitarbeiter in Niesky gibt, will Sonja Rönsch wieder eine Reise nach Gnadenfeld organisieren.
Gnadenfeld ist die einzige Niederlassung der Herrnhuter Brüderunität in Oberschlesien. 1766 hatte Ernst Julius von Seidlitz für seinen Sohn Friedrich das Dominium Pawlowitzke gekauft und ließ dort eine Siedlung für die Herrnhuter Glaubensbrüder gründen. 1821 erblickte in Gnadenfeld auch Hermann Plitt das Licht der Welt. Der spätere Pfarrer und Leiter des Theologischen Seminars in Gnadenfeld war von Diakonissenanstalten der evangelischen Kirche begeistert und wollte diese auch in der Gnadenfelder Brüdergemeine einrichten. Er träumte von einem Krankenhaus. Die Not in Oberschlesien war groß, berichtet Pfarrerin Angela Koppehl, die sich mit der Geschichte der Emmaus-Häuser beschäftigte und die Diakonissen mit ihren Vortrag fesselte. „Der Handlungsspielraum in einer überwiegend katholischen Umgebung, in der die barmherzigen Brüder und Schwestern mit ihrer Mildtätigkeit die evangelischen Gemeinden oft beschämten, war nicht allzu groß. Bei einem Versuch eine Kinderschule in Gnadenfeld einzurichten, hatte sich die katholische Kirche der Aufnahme katholischer Kinder widersetzt. Gegen mancherlei Bedenken und Schwierigkeiten, schließlich waren die Bewohner der Gegend nicht nur katholisch, sondern sprachen auch polnisch, war nach dem ersten kleinen Anfang 1870 sogar ein neues Haus gebaut worden“, berichtet sie über die Entstehung des ersten Heinrichsstift in Gnadenfeld. Zwei Schwestern hatten die Aufgaben im Stift übernommen: Auguste Tichy, die aus der Umgebung stammte und zweisprachig aufgewachsen war, und Luise Trespe aus Siegroth (Dobrzenice) im Kreis Nimptsch (Niemcza) in Niederschlesien. „Beide hatten 1870 in Gnadenfeld und Umgebung schon manches geleistet, hatten Kranke versorgt – besonders in der großen Choleraepedimie 1866/67 –, hatten eine Strickschule begonnen, Waisenkinder aufgenommen, einigen Alten ein Stübchen eingerichtet“, so Koppehl.
Angela Koppehl stellte den Diakonissen die Frühgeschichte von Emmaus umfassend vor einem Gemälde vor, das Herrmann Plitt zeigt. Oberin Sonja Rönsch war begeistert. Foto: Till Scholtz-Knobloch
1880 endete die Zeit Hermann Plitts in Gnadenfeld. Ärzte rieten ihm dringend zu einem südlicheren Wohnort. Als seine Frau verstarb ging er mit den Kindern nach Cannstatt (heute Stuttgart-Bad Canstatt) in Württemberg. „Da auch die übrigen Vorstandsmitglieder in Gnadenfeld aus Altersgründen die Arbeit eher niederlegen wollten und dazu die leitende Schwester Auguste Tichy sich keiner robusten Gesundheit erfreute, geriet die Existenz des Heinrichstifts in Gefahr“, berichtet die Pfarrerin. Dagegen wollte Hermann Plitt ankämpfen. Er durfte zwar nicht nach Gnadenfeld zurück, das wäre gegen die Bestimmungen der Brüdergemeine, aber er ging nach Niesky, von wo er hoffte, die die Leitung des Heinrichstifts in Gnadenfeld wieder zu übernehmen. 1883 kaufte er ein neues Haus am Rande von Niesky und richtete dort das neue Emmaus-Mutterhaus ein. Damit wurde das Heinrichstift in Gnadenfeld nun zur Filiale. Pfarrerin Koppehl: „Ich bin immer noch ganz beglückt, dass es in Gnadenfeld eine Verständigung über Sprach- und Religionsgrenzen hinweg gegeben hat, dass liebende Barmherzigkeit eine eigene Sprache spricht, dass es eine Ökumene der Barmherzigkeit gibt, die hoffen lässt“.