Sing dich ein und musiziere nicht allein!
Konzentrierte Cellistinnen des Jugendsinfonieorchesters beim XXL-Podium auf dem Untermarkt in Görlitz im Juli 2022 Foto: Beate Bauer
Die Gesellschaft wandelt sich laufend und mit ihr Musik, Konzentration oder gar die Definition von Glück. Im vierten Jahr als Leiter der Görlitzer Musikschule „Johann Adam Hiller“ e. V. setzt Thomas Stapel auf gemeinsamen Spaß in Ensembles – eine Strategie die gut funktioniert.
Görlitz. „Görlitz ist ein besonderer Ort für die deutsche Musikschulgeschichte“, betont Thomas Stapel. Er sei vor über 50 Jahren genau hier selbst Teilnehmer der ersten musikalischen Früherziehungskurse gewesen. Womit die Stadt in der DDR bereits Vorreiter war, ist heute an über 900 Musikschulen, die es in Deutschland gibt, eine Selbstverständlichkeit. Die musikalische Früherziehung hat sich landauf, landab längst durchgesetzt.
„Von der Wiege bis zur Bahre sind wir schon so etwas wie ein Spiegelbild einer veränderten Bildungslandschaft“, fasst Stapel schon am Anfang des Gespräch zusammen. „Wir praktizieren das tatsächlich so, dass wir mit dem Musikgarten für Kleinstkinder bis hin zu Erwachsenenchören wie dem Cactus-Club mit Liedern aus der Zwischenkriegszeit, oder den ’Liederlichen’, die das Apollo mit Programmen beleben, eine große Spanne schlagen.“ Am stärksten seien natürlich Schulkinder im Musikschulunterricht vertreten.
Vor 30 Jahren noch junger Musikschullehrer und Orchesterleiter stellt er drei Jahrzehnte später fest: „Mit dem Jugendsymphonieorchester Beethovens Erste oder Schuberts Fünfte spielen, das kann man heute vielleicht nicht mehr.“ Die Elitenschulung sei ein Wesen im DDR-System gewesen. „Aber, wenn ich nur Klasse statt Masse mache, gibt es wesentlich weniger Schüler. Damals waren es so 400 bis 500, inzwischen sind wir 1.200! Das heißt, wir bauen jetzt auf einer viel breiteren Basis unsere Spitze auf, die es aber weiterhin gibt.“
In einem neuen Imagefilm der Musikschule mit einem von ihm komponierten und getexteten Lied erläutert er im Refrain quasi, wie Erfolg 2023 im gesellschaftlichen Wandel funktioniert: „Sing dich ein, spiel dich ein, musiziere nicht allein!“. Es ist das Konzept im veränderten Freizeitverhalten, ohne hohen Prüfungsstress, mit dem man die Heranwachsenenden mit Spaß am Gruppenerlebnis bei Laune hält und zugleich auch für andere Dinge im Leben fit macht.
Die Freude an der Musik entwickele sich von alleine, wenn man gemeinsam etwas macht. Das funktioniere schon in jungen Jahren im Orchester wie bei den „Fidelini“, den Nachwuchsstreichern. „Wir haben das Mixtura-Orchester, wo ganz viele Instrumente zum Einsatz kommen, das Jugendsymphonieorchester. Auf der Bläserseite haben wir das Nachwuchsblasorchester und das Jugendblasorchester“, versucht er an möglichst viele Optionen zu denken. Es brauche also niemand als Solist aus der Schule herausgehen nach dem Motto: „Ich fiedel nicht alleine meine Etüde, die mir keinen Spaß macht, sondern es gibt ein Gruppenerlebnis und Auftritte.“
Doch wie ist das in einer Zeit vermittelbar, in der manch einer mit einer einfachen Melodie aus dem Stand virale Erfolge im Internet feiert und in Castingshows gefeiert wird? Immer steht so auch die statistisch seltene Option im Raum, mit technischer Unterstützung, Aussehen oder Image Erfolgserlebnisse auf eine leichte Weise zu schaffen. „Ich will das gar nicht werten“, sagt Thomas Stapel. „Es gibt Leute, die nie eine Note gelesen haben und plötzlich Millionär sind. Jeder, der ernsthaft an Musik rangeht, merkt aber, dass es ohne Arbeit nicht geht. Vielfach erkläre ich Eltern, dass der sogenannte Spaß nicht dadurch entsteht, dass ich laut lache, sondern dass Dopamin im Gehirn ausgeschüttet wird, wenn ich ein Ergebnis hervorbringe. Erst wenn ich mir Mühe gebe und ein Ergebnis habe, dann habe ich wirklichen Spaß.“ Und so ist die Arbeit in der Musikschule auch eine gesellschaftliche Erziehung.
Dass der Weg gut sei, sehe er auch daran, dass die Görlitzer Musikschule trotz Fachkräftemangels, und als e.V. unter Tarif zahlend, an der Anziehungskraft für Lehrkräfte nicht wirklich leide. „Wir arbeiten für ’unsere Musikschule’, das mag pathetisch klingen, aber anders kann ich es mir nicht erklären, wieso manch einer nach dem Studium wieder zu uns zurückkommt. Die Gruppenerlebnisse binden eben auch das Personal in einem Wir-Gefühl.
Im Kinderchor kann man noch ohne Instrumente einsteigen, nach ein zwei Jahren mit Instrument führt der Weg schon in kleine Formationen. „Wenn es besser wird, geht es in das Mixtura-Orchester.“ Sehr gut sei die Jazz-Rock-Pop-Abteilung, in der später in Schülerbands bis zu professionellen Formationen wieder reichlich Dopamin winkt. Oder wie es im Musikschulsong im Internet auch heißt: „Manch einer fängt als Kleinkind hier an, ein andrer sucht sich erst als reifer Mann ein Musikinstrument, für das sein Herz schon lange brennt.“