Spielt die Corona-Pandemie Görlitz in die Hände?
Selbst der frühere Bundespräsident Horst Köhler interessierte sich in seiner Amtszeit für das Görlitzer Probewohnen. Foto: Archiv
Görlitz. Eine der vielen Erkenntnisse im Zuge der aktuellen Pandemie lautet: Corona verstärkt bereits vorhandene Tendenzen in der Gesellschaft. So beobachten Soziologen und Stadtplaner bereits seit einiger Zeit einen Trend zur Stadtflucht, also zum Übersiedeln aus Großstädten in mittelgroße Städte und ländliche Gebiete. Ausufernde Kosten für die Lebenshaltung, aber auch die Sehnsucht nach etwas mehr „Natürlichkeit“ im täglichen Leben führen dazu.
Mittelstadt-Qualitäten rücken in den Fokus
„Die Pandemie hat auch Trends auf dem Arbeitsmarkt verstärkt, die Chancen für viele kleinere Kommunen abseits der großen Ballungsräume bergen“, meint auch Robert Knippschild. Der Professor am Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung (IÖR) mit Sitz in Dresden ist Feder führend am Projekt „Probewohnen“ in Görlitz beteiligt, das im vergangenen Jahr (wegen Corona vorzeitig) zu Ende ging. In vielen Branchen sei plötzlich das Arbeiten im Homeoffice eine denkbare Alternative zum täglichen Gang ins Büro. Davon könnten Mittelstädte wie Görlitz profitieren: „Sie können mit Qualitäten punkten, die viele Menschen in dicht bewohnten Großstädten vermissen.“ Bezahlbare Wohnungen gehören laut Knippschild ebenso dazu wie Raum für Kreativität und Selbstentfaltung, eine gute Versorgung mit den Dingen des täglichen Bedarfs oder ein vielfältiges Kulturangebot und kurze Wege ins Grüne.
Allerdings ist der durch Corona verstärkte Trend von der Groß- in die Mittelstadt kein Selbstläufer. Gewisse Bedingungen müssen schon erfüllt sein, um diesen Schritt auszulösen und unumkehrbar zu machen. Robert Knippschild nennt als Beispiele schnelles Internet sowie gute Zugverbindungen, um „einmal in der Woche“ dann doch zügig und bequem zum Meeting am Firmensitz in Berlin zu gelangen.
„Probewohner“ geben und nehmen
Wobei Berlin nur ein Beispiel ist, aber ein durchaus nahe liegendes. 45 Prozent der Teilnehmer an der jüngsten Probewohn-Staffel, die für die wissenschaftliche Auswertung des IÖR befragt wurden, kommen nämlich aus der deutschen Hauptstadt. Insgesamt lebten 62 Personen, die 41 Haushalte bilden, im vergangenen Jahr zur Probe in Görlitz. „Fünf Haushalte sind in der Folge nach Görlitz gezogen, ein sechster überlegt noch“, sagt Projektmitarbeiterin Constanze Zöllter. Wohl gemerkt: Dabei handelt es sich nicht um Senioren auf der Suche nach einem Alterswohnsitz, sondern um Familien, deren Ernährer/innen hauptsächlich in kreativen Berufen tätig sind. Auf diesen lag nämlich der Schwerpunkt in der Auswahl. „Mehr als 90 Prozent der Befragten waren freiberuflich tätig, zum Beispiel im Kunst- und Kulturbereich, in Beratung oder Lehre, journalistisch oder im Handwerk. Mehr als drei Viertel gaben an, auch dauerhaft ortsungebunden arbeiten zu können“, charakterisiert Constanze Zöllter den Teilnehmerkreis. Kein Wunder, dass sie an Görlitz die Vielfalt an Angeboten und Netzwerken der kulturellen und kreativen Szene schätzten, ebenso „die vielen Freiräume, sich kreativ zu entfalten.“
Und sie gaben zurück: So legte eine Teilnehmerin den Grundstein für die „Marktschwärmerei“, die seit dem Herbst 2019 in Görlitz existiert. Andere Teilnehmer boten Workshops in unterschiedlichen künstlerischen Genres an, bereicherten das Stadtleben mit Ausstellungen und Veranstaltungen.
Dem Auto wird zu viel Raum gegeben
Doch freilich ist nicht alles eitel Sonnenschein. Das Probewohnen zeigte durchaus auch Defizite auf, mit denen Görlitz – wie wohl die meisten Städte seiner Größenordnung – zu kämpfen hat. So entsprachen die Angebote auf dem Wohnungsmarkt nicht immer den Ansprüchen. Viel Kritik wurde laut Constanze Zöllter daran geäußert, dass „ausgerechnet in der historischen Innenstadt dem Autoverkehr sehr viel Raum gegeben wird.“ Ebenso vermissten die Befragten die Möglichkeit, in der Altstadt für den täglichen Bedarf einzukaufen. Insgesamt fokussierten Handel und Gastronomie in den Innenstadtbereichen zu sehr auf touristische Angebote.
Wie geht es jetzt weiter? Zunächst dienen die gewonnenen Erkenntnisse der Stadt Görlitz als Handreichung, um Verbesserungen anzustoßen. „Im Vergleich zu früheren Probewohn-Aktionen richtet sich der Blick jetzt stärker auf den Aspekt Arbeit“, so der Leiter des Stadtplanungsamtes, Hartmut Wilke. Und dies wird auch bei der nächsten Staffel so sein, die im Oktober beginnt: „Dann liegt der Schwerpunkt auf Branchen in den Bereichen Klimaneutralität und Nachhaltigkeit“, so Robert Knippschild. Der Wohnzeitraum wird von einem auf drei Monate verlängert, und es sollen gezielt Görlitzer Firmen gesucht werden, die bereit sind, Teilnehmer befristet anzustellen. Es bleibt spannend – auch (und hoffentlich) ohne Corona.