Stolpersteine - harte körperliche Arbeit für Erinnerung
Gedenken als Knochenarbeit: Gunter Demning beim Einlassen der Stolpersteine in der ul. Kosciusuki, während Lauren Leidermans englischsprachige Rede gerade ins Polnische übersetzt wird. Links Bürgermeister Rafal Gronicz. Foto: Till Scholtz-Knobloch
„Ein Poesiealbum mit Botschaft für die Welt“, das Wegweiser zu den einstigen jüdischen Familien der Stadt ist, war Titelgeschichte dieser Zeitung am 9. Oktober. Dieser Tage erlebten nun fast zwei Dutzend Nachkommen von ermordeten oder verdrängten jüdischen Görlitzer Familien im Rahmen einer Gedenkwoche auch persönliche Genugtuung. Neben der Vorstellung der Buchedition erlebten sie die Verlegung vieler neuer „Stolpersteine“ – erstmals auch auf der polnischen Seite der Stadt.
Görlitz. Es dämmert bereits, als eine große Gruppe am Gehsteig der ul. Kosciuszki in Ost-Görlitz (Zgorzelec) einen Kreis bildet. Ein lautes Stromaggregat sorgt für Scheinwerferlicht. „Was ist hier passiert?“, fragt eine besorgte Passantin, als sie inmitten des Kreises einen Mann mit dem Gesicht zum Gebäude knien sieht. Es ist Gunter Demning, der dabei ist, drei Stolpersteine zu verlegen, die ersten im polnischen Teil der Europastadt. „Das Einsetzen selber kann ich im Dunkeln. Mache ich aber nicht wieder, lasse mich nicht mehr darauf ein“, sagt der Ideengeber der Stolpersteine. Dabei ist das Verlegen der Steine in Polen eine Seltenheit für den Künstler. „Sehr oft war ich ja noch nicht in Polen. In Polen ist es immer noch recht schwierig. Es gibt hier so eine komische Institution, die sich für Denkmale zuständig fühlt, und die kommt mit den Steinen irgendwie nicht zurecht“, bedauert Demning wohl im Hinblick auf das Institut für Nationales Gedenken, das staatlicherseits den Wert von Gedenkorten oft nach Staatsräson zu sortieren versucht.
In der Steinstraße freute sich Tamara Meyer-Totschek aus den USA darüber, dass Gunter Demning auch am Totschek’schen Kaufhaus vier Stolpersteine für ihre Familie verlegte. Foto: M. Wehnert
Den ersten Stolperstein in Polen hat er 2008 in Breslau gelegt. Als er mit 50 weiteren im Gepäck nach Warschau reiste, war anfangs noch alles klar. „Daten waren klar, auch die Orte waren klar, dann kam plötzlich: ‚Wir brauchen noch eine technische Zeichnung, wie die Steine eingesetzt werden‘. So habe ich drei Zeichnungen gemacht, also Asphalt, Steine, Kleinpflaster – hingeschickt. Kommt zurück: ‚Wir brauchen jetzt noch ein geodätisches Gutachten und ein architektonisches Gutachten‘. Na ja, damit war es gestorben. Doch meistens klappt das dann gut, wenn Angehörige sich drum kümmern und mit dem Bürgermeister reden“, sagt Demning.
Nicht Angehörige, sondern die in Görlitz lebende US-Amerikanerin Lauren Leiderman hat das polnische Rathaus der Neißestadt vor einem Jahr via E-Mail kontaktiert. „Sie schrieb, dass sie am Haus Nummer 10 in der einstigen Courbièrestraße (ul. Kosciuszki) einen Blumenstrauß, drei Kerzen mit Namen und eine laminierte Information zu den Personen hinterlegte“, berichtet Rathaus-Pressesprecherin Renata Burdosz: „Der Bürgermeister rief mich am selben Abend an mit der Frage an: ‚Wer wohnte in der ul. Kosciuszki 10?‘“, so Burdosz.
Leiderman konnte den Bürgermeister für die Sache gewinnen und beide starteten eine Aufklärungsarbeit. Burdosz trommelte die Einwohner des Hauses Nr. 10 zusammen und schilderte die Geschichte von Max Goldberg, seiner Frau Helene und ihrer Tochter Eva, die 1938 vor den Nazi aus Görlitz fliehen konnten.
Auch, dass die kleine Eva ein Poesiealbum führte, dank dem Lauren Leiderman viele Schicksale jüdischer Görlitzer rekonstruieren konnte. „Zudem hatte Lauren an unserem Europalyzeum darüber gesprochen und heute bei der Steinverlegung habe ich die Lehrerin und einige Schülerinnen gesehen“, so Burdosz, die eine polnischsprachige Schautafel vor dem Haus organisierte. Diese informiert über das Schicksal der Familie Goldberg.
Der 22-jährige Piotr Wolczyk wohnt im Haus Nr. 10, hatte jedoch das Burdosz’sche Informationstreffen verpasst. „Ich arbeite lange und komme eigentlich nur zum Schlafen nach Hause. Mir ist die Ausstellung aufgefallen, aber gelesen habe ich sie noch nicht. Ich werde es nachholen“, verspricht er.
Daniel Breutmann vom Bürgerbüro der Görlitzer Südstadt stand Lauren Leidermann bei der Stolpersteininitiative von Anfang an zur Seite. Für ihn ist es wichtig zu zeigen, dass die Geschichte nicht am deutschen Neißeufer endet. „Die Gesellschaft hat sich ja vor dem Kriegsende nicht in Ost und West geteilt. Natürlich sind wir heute in der Görlitzer Oststadt, im polnischen Zgorzelec, aber es ist eben auch ein Teil und diesem Teil wird sich angenommen“, freut sich Breutmann. Sich der Menschen anzunehmen, die einst am Ostufer der Neiße lebten, ist für Bürgermeister Rafal Gronicz selbstverständlich. „In dieser Region haben auch wir Polen unsere Geschichte anderswo. Und auch wir möchten, dass man unsere Geschichte pflegt. Wir wollen doch auch, dass man die Polen im Osten in Erinnerung hält, auch wenn es sie dort nicht mehr gibt. Es ist ein Akt der historischen Gerechtigkeit diesen Menschen gegenüber, die hier einst lebten“, verriet der Bürgermeister.