Trotz vieler Schläge immer Kurs gehalten
Erika Schäplitz zeigt an der Originalstelle ein Bild aus den Anfangsjahren der Kelterei – der Mann in der Mitte ist ihr Vater Willy Kühne.
Reichenbach. Briefe, Zeitungsausschnitte, handgeschriebene Notizen bedecken den Küchentisch. 80 Jahre gelebtes Leben – doch womit anfangen, was weglassen? Erika Schäplitz aus Reichenbach (Gemeinde Haselbachtal) kann auf ein ungewöhnlich bewegtes Leben zurückblicken. Nun hat sie unlängst ihren 80. Geburtstag gefeiert. Zeit, um zurückzuschauen auf viele Höhepunkte, Ehrungen und Anerkennungen, aber auch auf Tiefpunkte und Schicksalsschläge.
Doch noch einmal: Womit und wann anfangen? Vielleicht tatsächlich am 26. Februar 1944, als in Reichenbach an der Pulsnitz die kleine Erika zur Welt kam. Als jüngstes von drei Geschwistern wurde sie in eine Familie hineingeboren, deren Alltag von harter Arbeit geprägt war. Ihr Vater Willy Kühne, den sie selbst nicht mehr bewusst kennen lernen konnte, war als ausgelernter Böttchergeselle auf die Wanderschaft gegangen und brachte vom Rhein die Idee mit, auf dem Familiengrundstück im Pulsnitztal eine Kelterei aufzubauen. Zunächst im Nebenerwerb, später hauptberuflich kelterte er aus den Früchten der selbst angebauten Obstbäume und Beerensträucher Säfte und Moste. „Willy Kühne“ – dieser Name ist auch heute noch in Reichenbach und den Nachbarorten gegenwärtig, trägt doch die von ihm begründete Firma nach wie vor seinen Namen. „Und daran wird sich auch nichts ändern“, sagt Erika Schäplitz resolut. Einerseits aufgrund der Bekanntheit des Namens; andererseits aber auch um den Vater und Großvater zu ehren, auf Grundlage von dessen Lebenswerk die Familie bis heute ihr Auskommen sichert. Und das, obwohl Willy Kühne noch in den letzten Kriegstagen 1945 eine Begegnung mit polnischen Soldaten in seinem Heimatdorf mit dem Leben bezahlte. Die kleine Erika musste frühzeitig mit „ran.“ „Nach dem gewaltsamen Tod des Vaters war die Mutter allein, und alle mussten mit anfassen“, berichtet sie heute aus ihrer eigenen Erinnerung.
Heu wenden, Rüben verziehen, Beeren ernten und vieles andere gehörten zu den Aufgaben des Mädchens. Dass sie einmal das Familienunternehmen führen würde, war damals noch nicht abzusehen. Denn eigentlich war dies ihrem älteren Bruder zugedacht. Erika erlernte indessen den Beruf der Weberin und schaffte den Sprung auf die Ingenieurschule für Textiltechnik in Forst, wo sie mit 20 (!) Jahren den Abschluss erwarb. Später arbeitete sie in Rhinow nördlich von Berlin, wo sie ihren Mann Volker Schäplitz kennen lernte. Er war es auch, der 1966 vorschlug, zurück nach Reichenbach zu ziehen, um die Mutter zu unterstützen und die Kelterei, vorerst nebenberuflich, zu betreiben und aufzubauen. So kam es dann doch dazu, dass Erika, die Jüngste, 1969 den Familienbetrieb mit Grundstück von der Mutter übernahm. Tochter Annett war 1967 und Sohn Mario 1968 geboren worden. Erika begann ein externes Studium an der Ingenieurschule für Lebensmittelindustrie Gerwisch, ihr Mann Volker beendete seine bis dahin ausgeübte Berufstätigkeit – so arbeiteten beide ab dem September 1969 zusammen in der Kelterei.
Wer die damalige Zeit noch kennen gelernt hat, dürfte ahnen, mit welchen Schwierigkeiten es verbunden war, eine eigene private Firma zu führen. „Der Zwangsverstaatlichung 1972 entkamen wir, weil wir zu klein waren“, blickt Erika Schäplitz zurück. Die Kehrseite bestand freilich darin, sich um alles selber kümmern zu müssen. „Doch mein Mann und ich waren schon frühzeitig harte Arbeit gewohnt. Anders wäre es wahrscheinlich nicht möglich gewesen, dies alles aufzubauen.“ Ein Kreis befreundeter Familien half, wo es ging. Die baulichen Erweiterungen und Verbesserungen der Produktionsbedingungen erfolgten überwiegend in Eigenleistung. An helfende Firmen war kaum zu denken. Noch heute ist Erika Schäplitz Nachbarn, Freunden und Bekannten, die ihnen damals handwerklich und mit Technik hilfreich zur Seite standen, dankbar.„Ohne diesen Zusammenhalt hätten wir es nicht schaffen können“, weiß Erika Schäplitz. Denn von staatlicher Seite hatte sie wenig Unterstützung zu erwarten. Immerhin ließ man sie ihre Arbeit machen. Denn irgendwann hatten auch die DDR-Oberen verstanden, dass ohne die kleinen, privat geführten Betriebe die Versorgung der Bevölkerung nicht zu gewährleisten war. Und welchen Bedarf es an den Angeboten der Kelterei Kühne gab, konnte man an den Lohntausch-Tagen sehen: „Bis in die Nachbarorte haben die Autos gestanden. Im Herbst haben wir zusätzlich zwei Mal in der Woche als ‚Feierabendbrigade‘ mit den Nachbarn, denen ich heute noch dankbar bin, Saft auf Flaschen gefüllt.“ Nach abgeschlossenem Ingenieurstudium für Lebensmitteltechnologie verstärkte Sohn Mario ab September 1990 als Produktionsleiter die elterliche Kelterei. Als erster Kelterei-Betrieb überhaupt arbeitete die Firma Kühne mit der Aronia-Beere, versäumte es aber, sich dies ausreichend patentrechtlich schützen zu lassen.
Die Zeit um die Wende herum brachte neue Herausforderungen. Zunächst musste Erika Schäplitz kurz nacheinander drei schwere Schicksalsschläge überwinden. Der schwerste war der Tod ihres Mannes Volker im März 1991. Doch schon bald schloss sie auch mit den Kehrseiten der viel gepriesenen Marktwirtschaft Bekanntschaft. „Bei allen Unzulänglichkeiten, mit denen wir in der DDR zu kämpfen hatten: Ein gegebenes Wort, ein Handschlag galten. Lieferungen wurden bezahlt. Doch plötzlich war das nicht mehr so.“ Erika Schäplitz und ihr Sohn Mario wurden von Betrügern übers Ohr gehauen. Sie blieben sich und ihrem geradlinigen Kurs dennoch treu. Und als ob das alles nicht genug gewesen wäre, engagierte sich Erika Schäplitz (wie auch schon zu DDR-Zeiten) für die Belange der Fruchtsafthersteller in ganz Ostdeutschland, wurde Mitgründerin und Vorsitzende des Fruchtsaftverbandes Sachsen sowie Mitglied im Beirat der deutschen Fruchtsaftindustrie. „Das war eine anstrengende, aber schöne Zeit. Unsere Exkursionen führten mich um die ganze Welt und ließen mich erleben, wie auf anderen Kontinenten Saft hergestellt wird“, erklärt sie heute. Als Erika Schäplitz 2009 dieses Ehrenamt (und zahlreiche andere) niederlegte, erhielt sie als erste Frau die höchste Auszeichnung der deutschen Fruchtsaft-Industrie – den Baumann-Gonser-Preis. 2012 würdigten sie die Mitglieder des sächsischen Verbandes mit der Urkunde als Ehrenmitglied. Bis heute besteht eine enge Verbindung. 2011 übergab sie das Unternehmen an Sohn Mario, der es bis heute fortführt. Sie selbst musste 2018 noch eine schwere eigene Erkrankung überstehen, um nun, mit 80 Jahren, auf ihr bewegtes Leben zurückblicken zu können. Und zu den bisherigen Zeitungsausschnitten, Briefen und Notizen kommen nun aus diesem Anlass noch weitere hinzu.