Über das Schwärmen von regionalen Produkten
Dagmar Ickert (vorne) hat wie hinter ihr Marcus Lehnert im Nostromo einen Warenkorb für einen Kunden zusammengestellt. Rechts brütet Anne Ritter-Hahn über Bestelllisten. Foto: Till Scholtz-Knobloch
Ökologisch angebaute Lebensmittel aus der Region liegen im Trend. Immer mehr Kunden kaufen diese zudem nicht mehr „auf Umweg“ über den Händler auf dem Markt, sondern direkt vom Erzeuger bei der „Marktschwärmerei“ am ’Nostromo’ in Görlitz. Dort holt man jedoch nur noch die im Internet vorbestellte Ware ab. Ein ähnliches Modell gibt es auch in Sohland am Rotstein.
Görlitz/Sohland am Rotstein. Schweinefleisch, Öle, Vogelfutter oder Honig aus See, Bier aus Nieder Seifersdorf, Fisch aus Rothenburg, Käse aus Markersdorf oder Backwaren vom Hübner-Bäcker aus Horka – das alles und noch viel mehr an lokalen Produkten kann man seit 2019 auf dem Gelände der Görlitzer Diskothek Nostromo in der Cottbuser Straße 21 am Donnerstag von 17.00 bis 18.30 Uhr, nein – nicht kaufen – sondern nach dem bereits im Internet erfolgen Kauf abholen.
Marcus Lehnert aus Olbersdorf, der als Erzeuger jeden Donnerstag Eier in Görlitz anbietet, erklärt: „Die Leute, die auf den Wochenmarkt gehen, suchen das Wochenmarktflair. Sie nehmen die Ware mit und gut. Diejenigen, die hier am Nostromo kaufen, wissen ganz genau, was sie wollen. Sie wollen etwas, das garantiert regional produziert ist und können hier bei der Abholung auch mit uns Erzeugern unmittelbar in Kontakt treten.“ Ramon-Luis Neumann holt gerade seine Tüte ab und sagt: „Ich habe von meiner Freundin von diesem System erfahren und finde die Qualität gut. Bis jetzt habe ich noch nicht bereut hier zu kaufen.“ Die Marktschwärmerei Görlitz liefert in Königshain, Vierkirchen, Reichenbach, Meuselwitz, Dittmansdorf und Krobnitz sogar an einzelnen Tagen direkt an. Davon kann die Rietschenerin Silke Walter also nicht profitieren. Sie verlädt am Nostromo Gekauftes in ihr Auto. „Ich arbeite in Görlitz, auf dem Heimweg hole ich die Ware ab, bestellen kann man ja von überall“, hat auch sie die Sache für sich entdeckt.
Im Gespräch mit den Erzeugern findet man oft auch den Grund für den überzeugenden Geschmack. „Wir bauen Gurken, Tomaten, Paprika auf Erde und nicht auf Hydroponik an, also nicht auf einer sterilen Nährlösung, bei der Erde nicht mehr benötig wird.
Der Vorteil der Erdpflanzung ist einfach der Geschmack“, sagt Dagmar Ickert von der Gärtnerei Jung aus Hilbersdorf. „Auf dem Markt kann es passieren, dass ich nicht weiß, wo die Produkte herkommen, ob sie nicht doch aus dem Großhandel stammen oder wirklich aus der Region“, sagt sie und erläutert, dass unter den Kunden schon sehr viele junge Leute seien, die Erfahrung mit Onlinekäufen hätten – „aber die Älteren ziehen auch so nach“, merkt sie an. Schwierig für die Älteren sei wohl mental, vorab zu bezahlen. Aber die Sorge lässt sich leicht zerstreuen, denn durch den gezielten Kauf erhalten die Käufer per E-Mail eine Abholnummer und so kann die ausgesuchte Ware gar nicht mehr von anderen quasi „weggekauft“ werden. Ungünstigenfalls bezahlt man und vergisst seine Tüte abzuholen. Mitunter kann selbst dann aber telefonisch noch eine Übergabealternative gefunden werden.
Fairer Handel für Kunden und auch die Erzeuger
„Für uns Erzeuger ist es ein wichtiger Punkt, dass wir zum Beispiel keine Lieferscheine oder Rechnungen zu schreiben haben. Man stellt die Waren zusammen und die Marktschwärmergesellschaft rechnet alles ab“, so Dagmar Ickert. Die „Gesellschaft“ – das ist in Görlitz quasi Anne Ritter-Hahn aus Melaune.
„Ich habe eine Zeit lang befristet im Landratsamt gearbeitet. Dort wurde das Konzept vorgestellt und für mich stand auf einmal die Frage im Raum, ob in Görlitz so etwas machbar wäre und da habe ich mich in meiner Elternzeit entschieden, dies hier aufzubauen. Seit September 2019 gibt es das jetzt“, sagt sie. Das Modell auf Provisionsbasis – die in ganz Deutschland verbreitete Marktschwärmer-Plattform – existiert hierzulande seit 2013 und hat ihren Ursprung in Frankreich. „Gastgeber“ wie Anne Ritter-Hahn erhalten eine Servicepauschale von 9 Prozent vom Gesamtumsatz, 10 Prozent erhält die Plattform für das technische Know-How, der Rest geht an die Erzeuger. Gemüse, Gurken oder Tomaten seien die am stärksten nachgefragten Produkte, so Anne Ritter-Hahn, die von einem Hof stammt und sich perspektivisch vorstellen kann, auch eigene Produkte anzubieten.
„Mitgliedschaft besteht nur in der Theorie“
925 Menschen hätten sich bereits als Kunden registriert – die Bestellung lässt sich sogar über eine Handyapp vornehmen. Auf dem Display wird man selbst am Urlaubsort automatisch zur nächsten Schwärmerei gelotst und kann auch dort regionale Produkte finden. Da die Mundpropaganda in Görlitz hervorragend laufe, ist die Marktschwärmerei auch ohne Werbung sicher auf dem Markt, auch wenn unter den 925 registrierten Kunden auch solche seien, die das System nach Hinterlegung ihrer Daten bislang nur einmal genutzt hätten. Dauerhafte Verpflichtungen gibt es also mit der „Mitgliedschaft“ nicht!
Neben der regionalen Herkunft hat bei der Marktschwärmerei auch die Nachhaltigkeit ihren Platz. Am Nostromo gehen immer einmal wieder 50 Cent, 1 oder 2 Euro bar über den Tisch. Quark der Hofkäserei Maria Käsche geht so zum Beispiel in Gläsern zu 50 Cent Pfand an den Mann.
Sohländer Landkorb folgt einer ähnlichen Philosophie
Die Görlitzer Marktschwärmerei finden Interessierte im Internet unter der Adresse https://marktschwaermer.de.
Ein ähnliches Modell gibt es im Einzugsbereich des Niederschlesischen Kuriers auch mit dem „Sohländer Landkorb“, wo regionale Lebensmittel über die Online-Plattform des globalen Non-Profit-„Open Food Network“ auf https://openfoodnetwork.de/sohland-lebt/shop bestellt und in Sohland am Rotstein an jedem ersten Freitag im Monat in der ehemaligen Bäckerei Strempski abgeholt werden können; allerdings ist im August urlaubsbedingt eine Pause angekündigt. Sonst kann in den Tagen vor dem besagten Markttag online oder am vorhergehenden Dienstag von 17.00 bis 21.00 Uhr unter der Telefonnummer 01520 / 738 88 23 bestellt werden – die Bezahlung erfolgt in Sohland im Gegensatz zu Görlitz erst bei der Abholung.
Zwischen Görlitz und Sohland gibt es hingegen Überschneidungen der regionalen Produzenten. So sind an beiden Standorten zum Beispiel die Gärtnerei Jung aus Hilbersdorf, die Görlitzer Brotschmiede oder der Enderhof aus Tetta vertreten. Hingegen ist beispielsweise der Lindenhof aus Pfaffendorf nur in Sohland dabei.