Überdachter Irrgarten mitten in der Stadt
Architekt und Bauforscher Frank-Ernest Nitzsche kennt das Hallenhaus wie auch dessen Schnittmodell wie seine Westentasche. Foto: Uwe Menschner
Das Haus Brüderstraße 9 dient der Stadt Görlitz als Info-Punkt für die Kulturerbebewerbung. Dabei offenbart es seine typischen Merkmale als Hallenhaus erst auf den zweiten Blick.
Görlitz. Aus der Fülle der außergewöhnlichen bis einzigartigen Bauwerke, die die Görlitzer Innenstadt prägen, ragt das Haus Brüderstraße 9 auf den ersten Blick kaum heraus. Um seine Bedeutung zu ergründen, muss man – am Besten mithilfe eines Fachmannes – hinter die Kulissen blicken. Frank-Ernest Nitzsche beschäftigt sich als Architekt und Bauforscher schon seit mehreren Jahrzehnten mit den Görlitzer Hallenhäusern, zu denen das Haus Brüderstraße 9 zählt: „Das hat sich nicht nur in Görlitz, sondern entlang der ganzen Via Regia vor allem in Richtung Osten entwickelt“, erklärt er. In Görlitz erfolgte diese Entwicklung schon sehr früh – wohl Ende des 15. Jahrhunderts.
Der zentrale Turm erfüllte im mittelalterlichen Hallenhaus zahlreiche Funktionen. Foto: Uwe Menschner
Damals erlebte die Neißestadt dank ihrer günstigen Lage an verschiedenen Handelswegen eine wirtschaftliche Blütezeit. Die Händler brauchten repräsentative Häuser, die sie nicht nur zum Wohnen, sondern auch als Kaufhaus, Messeplatz, Brauhof und Gästehaus nutzten.
Die im Mittelalter errichteten Häuser, die lediglich über ein Erd- und teilweise über ein erstes Obergeschoss verfügten, genügten nicht mehr den Anforderungen. Platz gab es nur nach oben, und so baute man ein zweites Obergeschoss. Damit verbunden war allerdings das Problem, genügend Tageslicht ins Haus zu bekommen.
„Man löste dieses Problem durch eine geniale Idee – das Einstellen eines Licht- und Treppenturmes, auch als Zentralhalle bezeichnet, genau in der Mitte des Hauses“, so Frank-Ernest Nitzsche. Von dieser Zentralhalle aus wird das gesamte Haus organisiert, es bestehen Verbindungen in alle Geschosse. Meist befinden sich hier auch die Küchen und die Heizanlagen. Die wirtschaftliche Blüte dauerte jedoch nicht ewig. Die Besitzer waren bald auf zusätzliche Einnahmen angewiesen und überbauten die einstmals großzügigen Hausanlagen. In der Brüderstraße 9 lässt sich das besonders gut nachvollziehen: „Die Zentralhalle ist noch vorhanden, aber um sie herum wächst das Haus“, erklärt der Görlitzer Bauforscher. Es entstehen dritte Obergeschosse, die Dachgeschosse werden für Mietwohnungen ausgebaut.
Mehr als 30 der typischen Görlitzer Hallenhäuser wurden für die Welterbebewerbung erforscht, die übergroße Mehrzahl befindet sich in Privatbesitz. Als die Stadt Görlitz eine Anlaufstelle für interessierte Besucher benötigte, fiel die Wahl auf die Brüderstraße 9. „Das Haus steht da, wie es 1994 vom letzten Mieter verlassen wurde, und ist völlig unsaniert“, berichtet Frank-Ernest Nitzsche. Bis heute dient es als Anlauf-, Informations- und Kommunikationsstelle rund um die Hallenhäuser und die Görlitzer Kulturerbebewerbung. Dabei geht man visuell originelle Wege. So lässt sich die Entwicklungsgeschichte anhand einer Lego-Animation nachvollziehen. Besonders hilfreich für das Verständnis ist das dreiteilige 3-D-Schnittmodell. „Wenn ich mit Freunden oder Bekannten hier durchgehe, wissen sie nach einer gewissen Zeit nicht mehr, wo sie sich befinden“, berichtet der Architekt schmunzelnd. Ihm selbst kann das nicht passieren, kennt er doch das Haus aus dem Effeff. Doch ein Ortsunkundiger kann sich in dem Gewirr von bis zu 70 Räumen leicht verlaufen – eben doch ein außergewöhnliches Bauwerk.
Kommentare zum Artikel "Überdachter Irrgarten mitten in der Stadt"
Die in Kommentaren geäußerten Meinungen stimmen nicht unbedingt mit der Haltung der Redaktion überein.
Bislang werden viele Architekten, Hausforscher, Journalisten und Mitarbeiter von Freilichtmuseen den Begriff Hallenhaus mit den seit vielen Jahrhunderten existierenden Hallenhäusern im Norden Deutschlands verbinden, die in Fachwerkbauweise errichtet wurden und meist als Bauernhäuser dienten. Da in den Texten zu den großartigen Görlitzer Bauten von Zentralhalle und Hallenhaus die Rede ist, müsste man doch zwecks Abgrenzung und Unterscheidung zu Hallenhäusern, z.B. in Worpswede, anders definieren, womöglich solche Görlitzer Bauten als Zentralhallenhaus bezeichnen?! MfG