Wer ist im neuen Jahr eigentlich unser Nächster?
Wolfgang Ipolt nimmt das Gastgeschenk der Heiligen Familie in Augenschein. Im Hintergrund Generalvikar Markus Kurzweil. Foto: Klaudia Kandzia
Im Januar häufen sich Neujahrsempfänge. Manche Rede erlebt dabei ihren zweiten Einsatz, aber außerhalb eines politischen Rahmens ist der Anspruch nach Tiefe im Angesicht des Herrn schon ein anderer. Die Redaktion war beim Neujahrsempfang des Görlitzer Bischofs Wolfgang Ipolt im Görlitzer St.-Otto-Stift dabei.
V.l.n.r. Octavian Ursu, Wolfgang Ipolt, Theresa Rienecker und Landrat Stephan Meyer Foto: Klaudia Kandzia
Görlitz. Der Gang zum Rednerpult beim katholischen Bistum dürfte einem bekennenden Christen wie Landrat Dr. Stephan Meyer auch Freude darüber abringen, dass er hier bekennen kann, zum Start in den Tag stets in die Losungen aus Herrnhut zu schauen. Am Veranstaltungstag, dem 14. Januar, war dies „Sorgt euch nicht um euer Leben“ (Matthäus 6,25). „In dieses Jahr möchte ich mit Demut gehen“, bekannte der Oderwitzer, der anfügte, dass dazu auch die tiefe Dankbarkeit gehöre, zu schätzen, sich im Glauben nicht wirklich sorgen zu müssen.
Wolfgang Ipolt würdigte den am letzten Tag des vergangenen Jahres verstorbenen deutschen Papst Benedikt XVI., indem er an dessen Rede 2011 vor den Volksvertretern im Bundestag erinnerte. Joseph Ratzinger hatte seine Ansprache damals mit dem ersten Buch Könige (3,9) begonnen, als Gott König Salomon einen Wunsch freistellte. Nicht Reichtum, Ruhm oder Macht wünschte sich der junge Monarch, sondern ein „hörendes Herz“, das sprichwörtlich in seinen salomonischen Urteilen wahr wurde. „Nimm das Recht weg – was ist dann ein Staat noch anderes als eine Räuberbande“, hatte Benedikt damals – so Ipolt – Augustinus von Hipp, der im 4. Jahrhundert Bischof im heutigen Algerien war, mit seiner Schlussfolgerung zitiert: „Wir Deutsche wissen es aus eigener Erfahrung, dass diese Worte nicht ein leeres Schreckgespenst sind.“
Über den Ukrainekrieg schlug der Görlitzer Hirte den Bogen zum Leitmotiv im Bistum 2023 „Wer ist mein Nächster?“. Diese Frage lasse sich in einer zusammenrückenden Welt nicht mehr nur mit dem unmittelbar neben einem stehenden beantworten. Auch im Kontext des Krieges stelle sich der Anspruch vom „Nächsten“ nun „geweitet“ dar. Dazu gehöre auch, dass man sich dem Glauben der anderen und mithin auch Flüchtlingen nicht verschließe – „Ich war fremd, aber ihr habt mich aufgenommen“ (Matthäus 25,35). Über den Exkurs in die geweitete Ferne griff Wolfgang Ipolt jedoch nicht die brennende Frage auf, ab wann es legitim sein kann räuberische Facetten zu thematisieren.
Die Nervosität in der Politik steigt bekanntlich, wenn ein Tatbestand einer „Delegitimisierung“ des Staates herhalten muss, weil Politik fern abseits salomonischer Haltung offenkundig grassiert. Auch Oberbürgermeister Octavian Ursu repräsentierte im St.-Otto-Stift diese Nervosität. Er leitete seine Rede mit der Feststellung ein: „Die Bevölkerungsbewegungen sind eine Jahrhundertaufgabe“, ehe er unmittelbar anschließend feststellte: „Debatten spitzen sich zu und fahren sich fest“. Er könne nicht im Ansatz Untergangsszenarien nachvollziehen, eine „differenzierte Diskussion“, sei nicht möglich angesichts der Debatten in sozialen Medien. Da war sie wieder: Die Absage der Diskussion mit dem „Nächsten“. Wenn es zur Jahreswende so politisch werden muss, wieso dann kein Tiefgang zu den weltpolitischen Zusammenhängen, die uns 2023 erwarten dürften? U.a. dem, dass die „Brics“-Staaten China, Indien, Russland, Südafrika und Brasilien mit dem Iran und Saudi-Arabien an einem mit Bodenschätzen real gesicherten gemeinsamen Währungssystem basteln, das den Dollar ablösen soll. Weit über 40 Prozent der Weltbevölkerung mit immensen Bodenschätzen erheben sich derzeit gegen 10 Prozent Nordamerika und Westeuropa. Doch genau diese wie der Teufel das Weihwasser gescheute Debatte findet ja faktisch fast nur noch in sozialen Netzwerken statt. Das Finanzsystem nicht als Schlüssel für Umbrüche, die Westeuropa marginalisieren, zu sehen, könnte man auch ‚extrem naiv‘ deuten.
Diözesanrat Hartmut Schirner, der letztmalig in dieser Position auf dem Empfang sprach, hatte seine Worte noch in den religiösen Rahmen eingepasst. Er halte wenig davon, von einer Zeitenwende zu sprechen, denn diese habe es ja vor 2.000 Jahren gegeben.
Und so blieb am Ende auch eine andere Frage offen. Wenn die Welt Jesu mit ihren unabänderlichen Wahrheiten vor 2.000 Jahren begonnen haben soll, wieso haben wir dann den Fall Joachim Wernersbach erleben müssen? Dieser hatte in seiner Weihnachtspredigt in Wittichenau im Bistum Görlitz ein Familienbild mit Mann, Frau und Kind in deutlicher Abwendung vom LGBTQ-Verständnis postuliert. Die ihn nach Wittichenau entsendende Abtei Tholey hatte den Geistlichen vorerst von seiner pastoralen Tätigkeit entbunden, da er ein Weltbild entworfen habe, das nicht der „gesellschaftlichen Realität“ entspreche. Gibt nach 2.000 Jahren also doch die Tagesschau den Takt vor? Es war damit zu rechnen, dass Wolfgang Ipolt im bundesweit zu spürenden Druck beim Neujahrsempfang die Causa Wernersbach nicht aufwärmt. Er hatte im Vorfeld bereits betont, er halte die Predigt für „unüberlegt und unverantwortlich“; die Menschen erwarten zum Fest die Stärkung ihres Glaubens und die Deutung der Weihnachtsbotschaft. Doch Weihnachten steht eben auch mit Jesu Geburtstag für den Anfang einer Verkündung. Kann Weihnachten 2022 oder 2023 nicht mehr als Fest verstanden werden, zu dem es sich lohnt, seither gültige Botschaften in Bedrängnis in Erinnerung zu rufen, die z.B. im Epheserbrief (5) dargelegt sind? Immerhin hatte Dekan Jan Kulyna Ipolt als Geschenk von polnischer Seite ein Ensemble der Heiligen Familie überreicht und damit vielleicht auch an das katholische Familienverständnis außerhalb des „Exoten“ Deutschland erinnert.
Wolfgang Ipolts evangelisches Pendant in Görlitz, Generalsuperintendentin Theresa Rienecker, hatte in ihrer Botschaft an die versammelte Runde betont, das Ansehen von Menschen sei schnell zerstört, es werde meist zu schnell geurteilt. Das fügte sich wunderbar in die Frage „Wer ist mein Nächster?“ ein. Theresa Rienecker verriet der Redaktion jedoch, dass ihr dieser Gedanke ganz allgemeingültig am Herzen gelegen habe, sie habe damit nicht – wie von der Redaktion erfragt – eine versteckte Botschaft zur Causa Wernersbach gesetzt.
Kommentare zum Artikel "Wer ist im neuen Jahr eigentlich unser Nächster?"
Die in Kommentaren geäußerten Meinungen stimmen nicht unbedingt mit der Haltung der Redaktion überein.
Lieber Herr Scholtz-Knobloch, vielen Dank für diesen Artikel.