Direkt zum Inhalt springen
Info & Kommentare

Wie die Europastadt zur fetten Lüge wird

Wie die Europastadt zur fetten Lüge wird

Sabine Euler mit Etappensieg: Ihre Tochter Toni geht seit der Einschulung in die 1A der DPFA-Europrymus-Regenbogen-Schule nun täglich über die Neiße nach Polen. Foto: Till Scholtz-Knobloch

Lange hat Sabine Euler einen Windmühlenkampf geführt, dass ihre Tochter in Polen ihre Schulpflicht erfüllen darf. Nun ihr ist das mit viel Social-Media-Aufruhr gelungen, während man westlich der Neiße in Sachen Europastadt und Schule weiter schläft.

Görlitz.
Dienstag, 7.40 Uhr. Im Foyer der Tecza (Regenbogen)-Schule in der ulica Bohaterow II Armii Wojska Polskiego auf polnischer Seite der Stadt hängt Erstklässlerin Toni ihre Jacke an den Haken, als ihre beste Freundin schon zum Unterricht vorbeizieht. Beide spaßen im fließenden Polnisch, während Mutter Sabine Euler bekennt: „Ich habe fünf Kurse gemacht und komme nicht über „dzien dobry“ und „przepraszam“ hinaus.“ Dass ihre Tochter nun eine Schule besucht, die auf einem sensationellen 99. Platz im polnischen Schulranking steht, dass Bildung hier fast beiläufig in halb so großen Klassen wie in Deutschland funktioniert, Digitalisierung auf höchstem Niveau Unterricht ergänzt und es Stundenausfall einfach nicht gibt, jedoch „liebevolle Strenge, mit der Wissen gemacht wird“, all das begeistert sie. Sie selbst nennt es mittlerweile „Fremdstolz“. Sie habe es vor 20 Jahren aus der Ferne zwar bewusst an die Grenze gezogen, eben weil eine Grenzregion so viel Kreativität entwickeln könne, doch die Idee einmal ihr Kind in Polen zur Schule zu schicken hat gar keine Vorplanung.

Eher als Notlösung habe sich für Toni ein Kindergartenplatz in Polen gefunden. In einem Blogeintrag im Internet bekennt Sabine Euler: „Ich verstand fast kein Wort und hatte Angst. Abends habe ich gegoogelt, ob die Prügelstrafe in Polen noch erlaubt ist. Wenn ich das Kind mit dem Fahrrad gebracht habe, habe ich das Rad zweimal abgeschlossen und schlendernde Passanten mit zerschlissenen Schiebemützchen streng angeguckt.“

Alles Vergangenheit. Bei der Idee, den geglückten Bildungseinstieg der Zweisprachigkeit mit der Grundschule fortzusetzen türmten sich aber bald riesige formale Hürden auf, die ganze Ordner füllen. „Ich habe die ganze Republik um Hilfe gebeten, da kam selten etwas zurück auch von politischer Seite fast null Resonanz. Dann ist das Jugendamt drauf angesprungen, weil sie darauf aufmerksam wurden, dass ich auf Social-Media Krawall geschlagen habe.“

Dass Toni nun erst einmal für vier Jahre eine Sondergenehmigung zur Beschulung in Polen habe, dürfte einzig Unterstützungsschreiben von Ex-Bürgermeister Dr. Michael Wieler und OB Octavian Ursu zu verdanken sein. Das ändert aber nichts an ihrem Urteil: „Bei jedem Fest liegen sich die Bürgermeister in den Armen, man macht ein Riesentamm“, aber dann scheitere man reihenweise an den Dingen, die eben nicht nur symbolisch seien. „Solange es so bleibt, ist die Europastadt eine fette, peinliche Lüge“, so die resolute Mutter, die im Foyer nun von einem polnischen Vater eines Sohnes, der Mitschüler von Toni ist, gegrüßt wird.

Rafal Walawko berichtet: „Ich habe Firmen und Häuser in Polen und Deutschland, es ist schwer zu sagen, wo unser Lebenszentrum ist.“ Auch er ärgert sich maßlos: „Polnische Kinder dürfen im Ausland lernen, es gibt einen Antrag, eine Seite, die man ausfüllen muss und das reicht.“ Er und seine Frau mussten bereits jeweils 500 Euro Strafe in Deutschland wegen der Verletzung der Schulpflicht in Deutschland entrichten. Ein Freund mit gleichem Problem wolle die Sache nun vor Gericht bringen und habe gesagt: „Notfalls gehe ich ins Gefängnis“. Dabei nimmt auch Toni in diesem Umfeld fließendem Sprachwechsels das Gegenteil von Schaden. „Ihr deutscher Wortschatz hat sich überdurchschnittlich entwickelt“, ist ihre Mutter überzeugt und begründet: „Forschungen bestärken die These, dass frühe Assimilation in fremdsprachigem Umfeld das beste Gehirn- und Aufmerksamkeitstraining überhaupt darstellen.“ Die deutschen Ämter rückten hingegen auch nie mit Motiven ihrer ablehnenden Haltung heraus. Sabine Euler vermutet, dass die Angst vor einer Zunahme von ’Freilernern’ dahinter stehen könne. Doch bekanntlich bieten deren Eltern ihren Kindern oft gerade aus Frust vor deutschen Verhältnissen durch Heimbeschulung eher mehr Bildung. Dass man faktisch aber nun ausgerechnet das polnische Bildungssystem indirekt in Frage stellt bleibt ihr ein Rätsel.

Am 12. April hatte sich Mike Altmann, Fraktionsvorsitzender von Motor Görlitz/Bündnisgrüne mit dem Vorschlag, Tonis Geschichte einmal zu beleuchten, an die Redaktion des Niederschlesischen Kuriers gewandt – nicht ahnend, dass die Redaktion bereits seit einigen Wochen mit der Schuldirektorin der kleinen Toni, Katarzyna Hübner, hinsichtlich eines Berichts in Kontakt stand. Mike Altmann hatte jedoch ein Beschleunigungsappetithäppchen dabei und erklärte der Redaktion: „Wir haben am 25. April im Stadtrat eine Vorlage eingebracht, die sich mit der Frage beschäftigt, wie viel Europastadt wir eigentlich beim Thema Schulbesuch haben“. Im Beschlussfassungstagesordnungspunkt 5.10 will die Politik der Verwaltung also einmal ins Gewissen sprechen – der Antrag bekundet: „Polnische Kinder dürfen via einfachem Gastantrag deutsche Schulen besuchen.“ Die Vorteile einer umgekehrten Vereinfachungen lägen doch auf der Hand. „Zweisprachig sozialisierte Kinder schlagen tiefere Wurzeln, immer mehr örtliche Unternehmen freuen sich über Sprachkenntnisse, die den Strukturen in der Dreiländerregion entgegenkommen.“ Insofern müsse das Sächsische Schulgesetz, zumindest in der Grenzregion, eine explizite Ausnahmeregelung eröffnen. Wer mag dem im Stadtrat nicht zustimmen?

Till Scholtz-Knobloch / 20.04.2024

Schlagworte zum Artikel

Was sagen Sie zu dem Thema?

Schreiben Sie uns Ihre Meinung

Die Mail-Adresse wird nur für Rückfragen verwendet und spätestens nach 14 Tagen gelöscht.

Mit dem Absenden Ihres Kommentars willigen Sie ein, dass der angegebene Name, Ihre Email-Adresse und die IP-Adresse, die Ihrem Internetanschluss aktuell zugewiesen ist, von uns im Zusammenhang mit Ihrem Kommentar gespeichert werden. Die Email-Adresse und die IP-Adresse werden natürlich nicht veröffentlicht oder weiter gegeben. Weitere Informationen zum Datenschutz bei alles-lausitz.de finden Sie hier. Bitte lesen Sie unsere Netiquette.

Weitere aktuelle Artikel