Wie ein Görlitzer abenteuerlich in den Westen floh
Chris Nüstedt ist den Weg vieler gegangen. Aus dem Osten (Kattowitz) in den Westen (Bremen), um am Ende der Heimat wieder in Görlitz, in das er sich verliebt hat, näher zu sein. Foto: M. Wehnert
Jährlich findet in Kattowitz der „Autonomiemarsch“ für Schlesien statt, der stets von katalanischen Autonomisten untersützt wird – vorn im Bild ein Katalane mit seiner Fahne. Foto: Scholtz-Knobloch
Denken die Menschen an eine schmerzliche Grenze durch Schlesien, dann denken sie zunächst an die Grenzziehung an Oder und Neiße 1945. Doch vor 100 Jahren bahnte sich die erste große Teilung Schlesiens mit der Volksabstimmung in Oberschlesien am 20. März 1921 an. Auch diese bestimmt Lebensläufe bis heute, so die von Chris Nüstedt, der mit dem Umzug nach Görlitz seiner Heimat wieder viel nähergekommen ist.
Görlitz/Region. Chris Nüstedt hat sich mit seinem Umzug von Delmenhorst bei Bremen nach Görlitz einen Wunsch erfüllt. „Hier bin ich weiterhin in Deutschland, wieder in Schlesien, kann mich in deutscher und polnischer Sprache bewegen und bin zugleich meiner Geburtsstadt Kattowitz wieder nahe“, sagt er. Die 300.000-Einwohner-Metropole im polnischen Oberschlesien fiel nicht erst 1945, sondern bereits 1922 nach einer Volksabstimmung vom 20. März 1921 an Polen, obwohl die Stadt damals mit 85,4 Prozent für Deutschland votierte. „Ich bin unter Bergleuten aufgewachsen und habe selber unter Tage gearbeitet“, sieht er sich mit der Geschichte Kattowitz’ verbunden.
Die Volksabstimmung war Folge des Versailler Friedensvertrages nach dem Ersten Weltkrieg. Von den damals 1,2 Mio. Stimmberechtigten votierten in ganz Oberschlesien 59,4% für den Verbleib bei Deutschland, 40,3% für den Anschluss an Polen. Die Grenzziehung nahm dann eine anteilige Teilung vor, wobei gerade die meisten Industriestädte wie Kattowitz trotz ihrer eindeutigen Stimmenzahlen Polen zufielen, weil die Alliierten die deutsche Industrie schwächen wollten.
Erst recht später nach dem Zweiten Weltkrieg hatten auch die Eltern des heute 65-jährigen Chris Nüstedt mit den Kindern nun Polnisch gesprochen, untereinander jedoch Deutsch. Es galt jetzt bei vielen, die Gefahr von den Kindern zu nehmen, als Deutsche stigmatisiert zu werden. Doch über das genaue Warum habe er mit den Eltern vor seiner Flucht aus Kattowitz nach Deutschland nicht gesprochen. „Als junger Mann habe ich mich ohnehin mehr für die Rockzipfel und ein freies Leben interessiert“, schmunzelt er dazu im Rückblick.
Auf Ausreiseanträge der Familie habe es jedenfalls stets Ablehnungen gegeben. „Wir haben nie etwas in der Wohnung gemacht, weil wir dachten, wir gehen hier sowieso weg. Nach dem Krieg wurden die Polen nach Oberschlesien gelockt und unter den unterschiedlichen Kulturen gab es faktisch einen Krieg“, berichtet er. Es habe Schlägereien um die schönsten Mädchen gegeben, „aber immer Schlesier auf der einen, Polen auf der anderen Seite. Uns wurde in der eigenen Heimat vermittelt nicht dazuzugehören. Schon als junger Mann war für mich klar, dass ich wie viele andere nur weggehen kann. Man hat das überall gespürt, bei Behörden oder im Umgang mit der Polizei.“
In Deutschland angekommen sei er erst einmal auf Wolke 7 gewesen und haben seinen Schritt nach 41 Jahren nie bereut. Doch der Weg dahin war mehr als abenteuerlich. Für seine Flucht habe er einen Zug von Aachen nach Rzeszów über Hindenburg in Oberschlesien gewählt. „Ein Freund und ich wussten, dass zwei deutsche Waggons dieses Zuges regelmäßig in Krakau abgekoppelt und tags darauf in den Gegenzug nach Aachen eingestellt werden. Weil wir das wussten, haben wir uns auf dem Weg von Hindenburg nach Krakau unter der Dachverkleidung der deutschen Wagen einschrauben lassen. Die Nacht mussten wir still in der Enge des Dachses verbringen, da der Zug bewacht wurde. Wir konnten die ganze Zeit in beide Richtungen nur auf dem Bauch auf Rohren liegen und uns nicht drehen. Um den Bauch hatten wir eine Wärmflasche gebunden, um Pipi zu machen und zuvor haben wir haufenweise Schokolade gegessen um Verstopfung zu haben. Erst als wir die Bahnhofsdurchsage hörten, dass wir in Hannover sind, konnten wir versuchen uns bemerkbar zu machen. In Minden/Westfalen habe ich dann erstmals den Boden der Bundesrepublik betreten und der Schaffner gratulierte uns“, schildert er die filmreife Aktion vom Herbst 1980, als die Tage heiß und die Nächte kalt waren. „Aber wir waren nun im Himmel und sahen nach dem dreckigen Oberschlesien all die Mercedesse“, leuchten ihm auch heute noch die Augen.
Nach Bremen sei er dann gekommen, weil dort ein Onkel lebte. 37 Jahre seines Lebens hat er dort verbracht, doch auf dem Weg in den Osten habe er sich in Görlitz verliebt. „Ich habe gespürt, mit meiner Geschichte passt das hier“, sagt Nüstedt. Allerdings habe auch eine Rolle gespielt, dass er seine neue Heimat Delmenhorst wie einst Kattowitz durch Zuwanderung entfremdet empfand. „Ich wollte etwas Neues und auch mein Sohn, ein ambitionierter Segelflieger, fühlt sich hier viel freier als in Delmenhorst.“ Die Nähe zu Kattowitz sei ein schöner Begleiteffekt, aber die komplette Verwandtschaft sei ausgesiedelt. „Ich besuche natürlich auch Orte der Kindheit, aber gerade in Kattowitz erkennt man die oft zugebaut nicht mehr. Zwischen den neuen Hochhäusern kann ich mit meiner Kindheit eigentlich nichts mehr anfangen“, sagt er über seine Heimatstadt, in der der Exodus der Deutschen nicht mit einer Vertreibung, sondern mit einer Verdrängung aus dem öffentlichen Leben und dem Entzug der Lebensgrundlagen 1922 begann. Dabei war die nationale Option in vielen Familien – und ist es übrigens oft noch heute 100 Jahre später – „schwebend“.
Der Gleiwitzer Publizist Dawid Smolorz erklärt, wie dies in seiner Familie aussah. „Meine Urgroßeltern mütterlicherseits lebten damals in der Nähe von Lublinitz (Lubliniec). Sie führten eine durchaus harmonische Ehe, ich hatte noch die Gelegenheit sie kennenzulernen. Der Urgroßvater war polnisch gesinnt, die Urgroßmutter sah sich als 200%-ige Deutsche. Und als die polnische Verwaltung Lublinitz übernahm, zog der Urgroßvater seinen besten Anzug an und begrüßte die polnischen Soldaten. Für die Großmutter war das ein Tag der Trauer und sie ist aus Protest zeitgleich zur Feldarbeit aufgebrochen“, erinnert sich Smolorz.
Auch Chris Nüstedt sieht sich in seinem Dasein als Oberschlesier eher als verbindendes Element. Als auch polnischsprachiger Taxifahrer in Bremen war er bei polnischen Kunden überaus beliebt, weil es bei ihm eben auch ein menschliches Wort in der Fremde auf Polnisch gab. Aber auf einer menschlich ganz engen Welle habe er als häufiger Chauffeur von Miroslav Klose mit diesem gefunkt. „Wir sind eben beide Oberschlesier, da wusste man bei jedem Wort, was gemeint war“, sagt er über den Fußballstar mit polnischer Mutter und deutsch-oberschlesischem Vater. „Oberschlesier bin ich eben immer geblieben“, sagt Chris Nüstedt stolz. „Das fängt schon damit an, dass mir die Familie immer heilig ist und ich – obwohl ich mich von vielem inspirieren lasse – wie einst in Oberschlesien am liebsten Gurkensuppe, Flaki, Wiener Schnitzel, Hühnersuppe und Schlesische Klöße koche.“
Das Gedenken an die Zeit vor 100 Jahren schwindet heute, auch wenn es den Auftakt für den großen Zug der Heimatlosen bildete. Während das Oberschlesische Landesmuseum in Ratingen bei Düsseldorf dem Komplex ihre neue Sonderausstellung widmet, backt man im Schlesischen Museum zu Görlitz kleinere Brötchen. Dr. Martina Pietsch vom Schlesischen Museum teilt auf Anfrage mit, dass man ab dem Jubiläumstag, dem 20. März, einzelne Exponate auf der Facebookseite des Museums vorstellen wolle – das es nicht mehr sei liege in erster Linie jedoch an den Möglichkeiten während der Pandemie.
In Oberschlesien selbst ist das Thema bis heute ein Politikum und Teil einer Staatsraison. Das Kattowitzer staatliche Institut für Nationales Gedenken organisiert z.B. einen Schülerwettbewerb, ein Abstimmungsplakat unter dem Motto „Stimme für Polen“ zu gestalten. Der Polnische Senat hat 2021 gar zum „Jahr der Schlesischen Aufstände“, zur Huldigung des Patriotismus ausgerufen.
Chris Nüstedt sieht sich in Görlitz ohnehin dazwischen. Er will weder einmal in Bremen, noch in Kattowitz oder Görlitz beerdigt werden. „Ich will einmal in die Luft gepustet werden und mein Sohn fliegt dann durch meine Asche.“