Wie ticken unsere polnischen Nachbarn? Noch gespaltener!
Nach über 100 Jahren macht sich in Polen noch die historische Grenze (schwarze Linie) zwischen Preußen-Deutschland sowie dem russischen „Kongresspolen“ und dem österreichisch-ungarischen Galizien mit Krakau bemerkbar. Karte: Wikimedia Commons, Synchdrac
Region. Immense soziale und in der Folge auch politische Unterschiede bescheinigt die Wissenschaft oft dem wiedervereinigten Deutschland. Sie resultieren aus einer Grenzziehung nach dem 2. Weltkrieg und habe sich damit seit über 70 Jahren herausgebildet.
Mindestens ebenso deutlich können sich solche Unterschiede auch nach über 100 Jahren darstellen, wie unser Nachbar Polen zeigt. Dort wurde am 15. Oktober ein neues Parlament gewählt. Die nebenstehende Karte zeigt die Präferenzen für die führenden politischen Lager.
Die nationalkonservative PiS, deutsch ausgeschrieben: „Recht und Gerechtigkeit“ – in der Karte blau gefärbt – hat ihre Hochburgen in den historischen Gebieten des einstigen „Kongresspolen“ (Russisch-Polen) sowie an der südlichen Flanke um Krakau in einstigen Teilen Österreich-Ungarns. Gerade im einstigen „Kongresspolen“ dominieren kleine und kleinste bäuerliche Einheiten. Hingegen waren die einst preußischen Landesteile im Westen und Norden des heutigen Staatsgebietes viel engmaschiger infrastrukturell erschlossen, was sich zum Beispiel bis heute im Eisenbahnnetz widerspiegelt.
Im östlichen Polen ragen damit in roter Färbung Mehrheiten für die KO (Bürgerkoalition) nur in den großstädtischen Ballungszentren Warschau, Lodsch (Lodz) und Krakau hervor, in denen traditionelle Bindungen stärker aufgehoben sind. Hinzu gesellt sich im Nordosten der Urwald von Bialowieza mit seiner weißrussischen Volksgruppe, die sich von Polens Nationalkonservativen von der PiS bedrängt fühlt. Die Bürgerkoalition ist ein 2018 geschlossenes Wahlbündnis zwischen der liberal-konservativen Bürgerplattform (PO), der wirtschaftsliberalen Nowoczesna (Moderne) und den Grünen.
Neben Metropolen wie Danzig, Stettin, Posen (Poznan) und Breslau sind in Polens Nord- und Westgebieten aber auch viele ländliche Wahlkreise mit Mehrheiten der Bürgerkoalition ausgestattet oder verfügen nur über knappere Mehrheiten der PiS. Dabei unterscheiden sich Gebiete um Posen (Großpolen) und um Danzig, die bereits nach dem 1. Weltkrieg an das damals neu entstandene Polen gefallen sind nur geringfügig im Wählerverhalten von den nach dem 2. Weltkrieg an Polen gefallenen Gebieten, aus denen die Deutschen fast vollständig vertrieben wurden.
Insgesamt vereint den einst preußischen Raum neben der starken Infrastruktur, dass dort gerade im Sozialismus Regionen von Grund auf neu in ihrer Sozialstruktur ausgerichtet wurden – in der Landwirtschaft etwa durch großflächige Produktionsgenossenschaften.
Auch die alteingesessenen Oberschlesier sind ’unanfällig’ für die PiS, die Minderheitenrechte der Deutschen oder das Selbstbewusstsein von „Autonomisten“, die sich oft als quasi eigene oberschlesische Nationalität sehen, beschneiden will.
Für wenige dunkelblaue PiS-Hochburgen in Niederschlesien ist neben Strukturschwäche überraschenderweise auch Strukturstärke verantwortlich. So wählen viele Menschen im reichen Kupfergürtel um Liegnitz (Legnica) und Lüben (Lubin) die PiS, die Mitarbeiter des staatsnahen Kupfertagebaus besonders fördert. Strukturschwäche und eine starke PiS gibt es im Powiat Zgorzelecki, dem polnischen ’Kreis Görlitz’. Die Entscheidungsträger auf deutscher Seite von Görlitz sind erleichtert, dass auf der polnischen Stadtseite die PiS trotz relativer Mehrheit nicht über die übrigen Parteien dominieren kann. Damit sind eingespielte politische Partnerschaften vorerst nicht in Frage gestellt.
Ost-Görlitz (Zgorzelec) wählte mit 38,29% oder 6.638 Stimmen die Bürgerkoalition, 30,93% der Stimmen gingen an die PiS (Recht und Gerechtigkeit), was aus 5.361 Stimmen resultiert. Die Neue Linke errang 11% (1.907 Stimmen), der Pro-EU-ausgerichtete „Dritte Weg“ (TD) 10,52% (1.824 Stimmen). Die rechts von der PiS stehende „Konföderation der Freiheit und Unabhängigkeit“ (Konfederacja), der neben Libertären zum Beispiel auch Monarchisten anhängen, errang 5,22% (904 Stimmen), Parteilose holten 2,7% (468 Stimmen) und „Einig Polen (Polska jest jedna) 1,34% (232 Stimmen). Bei 235 ungültigen Stimmen ergab sich eine Wahlbeteiligung von 74,6 Prozent.
Landesweit stellte sich die Lage Anfang der Woche noch schwierig dar. Präsident Duda protegiert weiter die PiS, diese findet aber weiterhin keinen Koalitionspartner.