Wissenschaft: Wem dient sie in Zukunft?
Nahm seinen Abschied: Prof. Willi Xylander inmitten seines Nachfolgers Prof. Karsten Wesche (rechts) und des Generaldirektors der Senckenberg-Gesellschaft Klement Tockner Foto: Matthias Wehnert
Willi Xylander ist als langjähriger Direktor des Görlitzer Senckenberg-Museums Geschichte. Er rettete den Standort, baute ihn aus, ist aber auch Vertreter einer Zeit, in der Wissenschaft und Politik zunehmend verflochten sind in die Lehre damit nicht mehr völlig frei agiert. Nun hat Prof. Karsten Wesche das Amt übernommen.
Görlitz. Ein Festakt mit dem Ministerpräsidenten hat am Mittwoch noch einmal die Strahler auf Prof. Willi Xylander gerichtet. Und der ist – wie den Görlitzern hinlänglich bekannt – aus einem besonderen Holz geschnitzt. Nomen est omen – letztlich ist die im Deutschen ungewöhnliche Buchstabenabfolge seines Familiennamens ja auch eine Gräzisierung – also die in der Frühen Neuzeit beliebte Übertragung eines Familiennamens ins Griechische.
Bei Scultetus (für Scholz) weiß der Görlitzer gemeinhin noch Bescheid, eher weniger hingegen, dass Xylon (griechisch Holz) sowie andrós (griechisch Mann) zusammen eine Herkunft von Holzmann bzw. Niederdeutsch Holtmann erahnen lassen.
Und obwohl Willi Xylander so manches dicke Brett in Görlitz gebohrt und tiefe Spuren hinterlassen hat, blieb er beim Pressetermin vor dem Festakt bescheiden. Xylander wählte von allen drei vertretenen Senckenberg-Größen die wenigsten Worte, um den Charakter des Tages zu umreißen. Kurz und präzise, wie es auch in der Laudatio vom Chef des gesamten Senckenberg-Verbunds aus Frankfurt am Main, Prof. Klement Tockner, anklang. „Willi Xylander war als Chef unheimlich präsent und er hat sehr viel Wert auf persönlichen Kontakt zu allen Mitarbeitern gelegt. Durch seine charmante und pointierte Art hatten auch Mitteilungen über zum Beispiel Verwaltungsvorgänge durchaus unerwarteten Unterhaltungswert“, so Klement Tockner, der in nicht minder charmanten steirischem Tonfall dem – seit letztem Jahr – Träger des Bundesverdienstkreuzes – viel Anerkennung zollte. Tockner betonte zum Beispiel, dass es als Glücksfall anzusehen sei, dass „Xylander nicht – wie ursprünglich angedacht – Medizin studierte, sondern sich 1995 für ein Biologiestudium in Göttingen einschrieb. Dort promovierte er als Stipendiat der Konrad-Adenauer-Stiftung über Fischparasiten.“ In Görlitz habe er sich als fordernder, aber eben auch fördernder Leiter erwiesen. Mit dem 31. Dezember 2022 endete nach 27 Jahren die Amtszeit von Willi Xylander als Direktor des Staatlichen und ab 2009 Senckenberg-Museums für Naturkunde in Görlitz.
In der Presseeinladung zum Festakt im Humboldtsaal waren die 27 Görlitzer Jahre unter anderem mit den Worten umrissen: „In dieser Zeit wuchsen die Mitarbeiterzahlen von 40 auf 120, die Forschung wurde durch Drittmittel intensiv ausgebaut, internationale Studiengänge wurden gemeinsam mit dem Internationalen Hochschulinstitut Zittau und der Technischen Universität Dresden ins Leben gerufen, die internationalen Wanderausstellungen des Museums erreichten Millionen Menschen in sieben Ländern, das Museum wurde Mitglied der Leibniz-Gemeinschaft und in die Senckenberg-Familie aufgenommen. Der Grundstein für den neuen Senckenberg-Campus wurde gelegt – die Gebäude wachsen in die Höhe.“
Günstige Zeiten für Mittelakquise in Sachen Umwelt
Sucht man ein Haar in der Suppe, so ist dieses am ehesten in der überaus erfolgreichen Mittelaquise zu suchen, die so manchen Arbeitsplatz in Görlitz gerettet hat oder am Campus in der Bahnhofstraße erst begründen wird. Nur hinter vorgehaltener Hand ist aus dem Hause auch zu hören, dass eben dieser Erfolg die Beherrschung des politischen Windschattens voraussetzt. Während allenthalben sparen angesagt ist, wurden die Pläne für den Neubau über die Jahre immer größer. Das wissenschaftliche Begleitprogramm zu Klimazielen schifft in unseren Jahren politisch durch ergiebige Gewässer. Während ein Oberbürgermeister Gottlob Ludwig Demiani für immer den riesigen Aufschwung im 19. Jahrhunderts verkörpern wird, könnte der Name Xylander noch weit in der Zukunft für die Goldenen Jahre der politischen Umweltbewegung in den Geschichtsbüchern der Stadt erhalten bleiben.
Bei dem Pressegespräch richtete sich der Fokus für die drei Vertreter der schreibenden Zunft – Deutsche Presse-Agentur (dpa), Sächsische Zeitung und Niederschlesischer Kurier – jedoch auf einen ganz anderen und neuen Aspekt. Klement Tockner stellte in den Fokus, in zwei Jahren werde in Jena in Kooperation mit der dortigen Universität ein neues Institut geschaffen, das sich als „Exzellenzcluster“ der künstlichen Intelligenz widmen werde. Wesentlich für das neue Senckenberg-Institut sei auch die langfristige Sicherung und Nutzung des Herbariums Haussknecht der Universität Jena – mit seinen etwa 3,5 Millionen Pflanzenbelegen. Gleich vier Professuren werden in Jena angesiedelt sein. Mit all diesen Ausführungen schien über den zu erwartenden dpa-Text vorgezeichnet, dass die sich der Blick überregionaler Zeitungen bis zum Wochenende nun eher auf Jena als auf Görlitz richten dürfte.
Im Rausch der großen Worte hieß es zudem in der Presseeinladung: „Im Dialog mit Akteuren aus Wissenschaft und Praxis erforscht die Senckenberg-Gesellschaft mit innovativen Methoden gesamtgesellschaftliche Zukunftsfragen. Es ist das Ziel, durch ganzheitliche Geobiodiversitätsforschung einen zukunftsweisenden Beitrag zur Bewältigung der großen Herausforderungen des Anthropozäns zu leisten.“
Fluch und Segen ganz neuer Perspektiven
Genau diese Ausführung ist insofern nicht unproblematisch, da der Begriff „Anthropozän“ (ánthropos = der Mensch ) in der Wissenschaft neu und umstritten ist und mit ihm versucht wird, ein geologisches Zeitalter zu konstruieren, in dem die Menschheit den dominanten geophysikalischen Einfluss ausübe. Egal, ob man nun das 17. Jahrhundert mit dem umfassenden Kontakt von Europäern und indigener Bevölkerung und seinen Einfluss auf die Erdvegetation, 1800 mit Dampfmaschinen und Industrialisierung oder Mitte des 20. Jahrhunderts mit den ersten Spuren des Einsatzes von Atomexplosionen zum Startschuss für ein „Anthropozän“ erhebt, erscheint dies erdgeschichtlich geradezu marginal. Zudem ist es ist fast schon unwahrscheinlich, dass der Mensch in alter Form dauerhaft die Erde bestimmen kann. Wie weit wird ein Transhumanismus – die künstliche Verquickung von Maschine und Mensch – in nur 1.000 oder selbst nur 100 Jahren die Erde auf den Kopf stellen?
Der Komplex künstliche Intelligenz, zu dem die drei Wissenschaftler enge Verknüpfungspotenziale mit der Forschung in Görlitz sehen, weist in eine ebenso faszinierende Welt unendlicher Optionen wie auch Ängsten vor dem Dasein des Menschen oder seiner politischen Bändigung. Politikwissenschaftlich wird nämlich die Konstruktion des „Anthropozäns“ mit der Schlussfolgerung begleitet, dass nicht drei Gewalten: Legislative (Gesetzgebung), Exekutive (Verwaltung) und Judikative (Rechtsprechung), sondern mit einer „Zukunftsinstanz“ künftig vier Gewalten bestimmen sollten. Ein Modell, das demokratische Mehrheiten durch vermeintlich wissenschaftlich begründete Umwelterfordernisse aushebeln kann, womit die Nennung des Begriffes Anthropozän in sich bereits hochpolitisch ist. Es ist insofern nicht verwunderlich, dass nur Klement Tockner eine Frage des Niederschlesischen Kuriers zu diesem Komplex als Chef aller Senckenberger beantwortete.
Vielleicht ist es da ein gutes Vorzeichen, wenn Willi Xylanders Nachfolger Prof. Karsten Wesche einen ausgesprochen geerdeten Eindruck hinterlässt. Mit dem Studium der Biologie (Botanik, Naturschutz, Ökologie) und verwandter Fächer (Bodenkunde und Geografie), einer Promotion in Biogeografie und einer Habilitation über das Überleben von Pflanzen in den Wüstensteppen im Süden der Mongolei kann er auf der Klaviatur der Bodenkunde, dem Görlitzer Schwerpunkt, mitspielen. Mit zwei Kollegen ist Wesche auch seit 2013 Herausgeber eines der deutschen Standardwerke für die Pflanzenbestimmung im Gelände – dem „Rothmaler“. Seit 2016 hat er eine Professur am Internationalen Hochschulinstitut Zittau der Technischen Universität Dresden inne und übernahm die Abteilungsleitung Botanik am Senckenberg-Museum Görlitz. Er wolle nichts grundsätzlich anders machen, bekannte er am Mittwoch.
Ob Willi Xylander Görlitz dauerhaft erhalten bleibe oder er erwäge doch einmal zurück nach Westfalen oder Hessen zu gehen, wollte der Niederschlesische Kurier von ihm wissen. Die Aussichten seines Bleibens stünden gut, doch in der Familie habe er nicht als einziger das Wort. Aber die Zukunft von ihm und sein Görlitzer Werk lässt sich in Kürze für jedermann ohnehin vertiefen. Wer sich näher mit Umweltfragen und Görlitz als Wissenschaftsstandort an sich beschäftigen möchte, der sollte am Mittwoch, 1. Februar 2023, 19.00 Uhr, in die Benigna-Bar am Görlitzer Untermarkt kommen. Willi Xylander wird dort bei freiem Eintritt und auf Einladung des Aktionskreises für Görlitz e.V. Ausblick und Rückschau in einem Salongespräch halten.